Yorkshire – Normandie (via Los Angeles)
- marczitzmann
- vor 3 Tagen
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Glücklich, wer die Welt so zu sehen vermag: Die Pariser Fondation Louis Vuitton widmet David Hockney die größte je ausgerichtete Retrospektive
Diese Ausstellung bricht eine Lanze für das Kunstvermittlungsmedium „Ausstellung“. Reproduktionen gerade jüngerer Arbeiten von David Hockney zeitigen mitunter Skepsis: Ist das nicht etwas schrill im Kolorit, etwas kindisch in der Komposition? Doch in der Pariser Fondation Louis Vuitton, die dem 87-jährigen Briten mit über 400 Exponaten die größte je ausgerichtete Retrospektive widmet, fällt vieles ins Lot. Farbkombinationen, die auf dem Papier oder Bildschirm billig und effekthascherisch anmuteten, wirken an der Wand nobel und verwegen. iPad-Malereien, die Gelegenheitswerken glichen, gewinnen in der hier gewählten Präsentation Ewigkeitswert. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ersetzt nichts die direkte Anschauung des realen Kunstwerks, so die angenehm ins Auge stechende Einsicht.

Nehmen wir die Serie „220 for 2020“, entstanden im ersten Jahr der Pandemie, als Hockney durch einen glücklichen Zufall in der Normandie festsaß und für ferne Freunde zwölf Monate lang seine Umgebung in iPad-Zeichnungen festhielt. Bäume, Wiesen, Gärten, Topfpflanzen – alles, was zwischen Februar und dem folgenden Januar grünt und blüht. Im Katalog wirken etliche dieser Arbeiten trotz hoher Druckqualität wie Bagatellen, Fingerübungen, Postkarten mit privater Bestimmung. An den Wänden der Vuitton-Stiftung, ausgedruckt oder von Bildschirmen leuchtend und zu zwölft oder zu zwanzigst rechteckige Gruppen bildend, entfalten sie einen unwiderstehlichen Zauber: Variationen auf ein Thema, das nie alt wird – die Erneuerung der Natur im Wechsel der Jahreszeiten.

Da alternieren die Perspektiven (Panorama oder Fensterschau), changieren die –
digitalen – „Texturen“ (vom breiten Strich in virtuellem Öl zur grafischen Feinzeichnung), fokussiert ein Bild sauber auf seinen Gegenstand (einen Gartenstuhl und ein Büschchen, lotrecht gerahmt), derweil andere wie im Vorbeieilen schnappschussartig-schräge Anblicke eines Bächleins erhaschen. Durchdrungen wird alles von der Farbe der Hoffnung: Diese adelt Landbaumaschinen und erhellt sogar ein Schneegestöber. Ja, selbst die in einem abgedunkelten Séparée gezeigten Mondscheinbilder weisen bei aller Nachtmagie in Grau, Blau und Lila einen smaragdenen Grundton auf.
Frankreich ist nach dem Geburtsland Großbritannien und der Wahlheimat USA der dritte Staat, in dem Hockney lebt und arbeitet. Paris widmete bereits 1961 dem damals 24-Jährigen eine erste Ausstellung, der viele weitere folgten. Zwischen 1973 und 1975 ließ sich der Künstler in der Lichterstadt nieder; 2019 erwarb er einen ländlichen Herrensitz südlich von Deauville. Ein Jahr zuvor hatte ihn die Schriftstellerin Catherine Cusset mit einer (kaum) romancierten Biografie beehrt. „Vie de David Hockney“ (deutsch: „Hockneys Leben“) referiert die Fakten so fehlerfrei, dass der Gastkurator der Schau in der Vuitton-Stiftung, Norman Rosenthal, die fiktionalisierte Lebenserzählung unter seinen drei Referenzwerken zu Hockney aufführt. Das ist klar überbewertet, aber zu einem Glas Rotwein lässt sich das 200-seitige Bändchen wie eine Mischung aus gehobenem Groschen- und beschwingtem Bildungsroman verschlingen. Aus Anlass der Ausstellung hat der Gallimard-Verlag der Romanbiografie sogar eine luxuriös bebilderte Neuausgabe angedeihen lassen.

Und auch die Schau punktet mit alten Hits. So vereint das erste Kapitel, das „Von Bradford bis Beverly Hills“ führt, mithin die viereinhalb ersten Schaffensjahrzehnte seit dem ersten verkauften Bild abdeckt, besagtes „Portrait of My Father“ von 1955, Arbeiten aus den frühen 1960er Jahren, die im Stil des abstrakten Expressionismus Zahlen und Buchstaben verwenden, Männerakte und Schwimmbadbilder aus Kalifornien (darunter der ikonische „Bigger Splash“), zwei besonders spannungsreiche Doppelporträts – ein Genre, auf das Hockney sich eine Zeitlang spezialisiert hat –, und glühend farbige, schwindelnd kurvige Straßenlandschaften aus dem Los Angeles County.





Im heimatlichen Yorkshire, wohin er ab 1997 regelmäßig aus den USA zurückkehrte und wo er sich 2005 für längere Zeit niederließ, schuf der Künstler ähnlich vexierbildhafte Straßenbilder mit nunmehr kleinstädtischem beziehungsweise ländlichem Hintergrund. Doch verlegte er sich vor allem auf Landschaftsmalerei und -zeichnung. Die Schau wartet hier mit den in jeder Hinsicht überwältigenden „Bigger Trees near Warter or/ou Peinture sur le Motif pour le Nouvel Age Post-Photographique“ auf (der Titel des antinaturalistischen Naturbilds ist Programm), mit fesselnden „Felled Trees“ in fauvistischen Grün-, Gelb- und Malventönen, und mit Impressionen des „Tunnels“, einer von Hockney so benannten Baumallee, deren spiralförmig sich verengendes Zentrum den Blick unentrinnbar anzieht wie ein Vortex.

Von der technischen Meisterschaft des Künstlers zeugen, verstreut zwischen Dutzenden von Porträts in Öl und Akryl von unterschiedlicher Güte, seine Blei- und Farbstift-, Tusche- und Kohlezeichnungen. Die „12 Portraits after Ingres in a Uniform Style“ dürfen sich ohne Etikettenschwindel auf den formstrengen Klassizisten berufen. Doch mitunter treibt die Reibung mit älteren oder alten Meistern auch verwachsene Blüten: Ein Van Gogh‘scher Stuhl mit umgekehrter Perspektive bleibt bloße Spielerei, religiöse Gemälde nach Fra Angelico oder Claude Lorrain geraten plump epigonal beziehungsweise süßlich sulpizianisch.
Da bereiten Hockneys Experimente mit in achtzehn Bildschirme aufgesplitteten Videos ganz andere Augenschmäuse: Die einzelnen Facetten fügen sich zum Panorama einer Landschaft oder einer Tanzszene, aber nicht nahtlos, sondern jeweils etwas näher oder ferner, etwas höher oder tiefer im Raum – als sendeten anderthalbdutzend Stielaugen mit je leichtem Abstand zueinander (und mitunter sogar unmerklicher Zeitverschiebung) ihre Informationen an ein einziges, zentrales Hirn.
Die Welt mit dem Blick tief in sich aufnehmen, ihre Dreidimensionalität flächig verfremden, sich am Ergebnis farbtrunken berauschen: Dieser Dreischritt bildet Hockneys Zauberformel für zeitloses Sehvergnügen – in seinem neunten Lebensjahrzehnt mehr denn je.

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