Barockopern zum Leben erwecken ist schwer. Mit wackeren Koloraturen auf der Bühne, solider Stilkenntnis im Orchestergraben und einer auf die Jetztzeit verweisenden Regieidee allein ist es nicht getan. Ohne Feuer und Fantasie wird in Händels „Ariodante“ im Pariser Palais Garnier zwar viel gesungen – aber das Werk als solches spricht nicht. Einzig der Countertenor Christophe Dumaux macht hörbar, wie elektrisierend diese Musik tönen kann.
Wir sind in einem mittelalterlichen Märchenland des Ariost. Einem sagenhaften Schottenreich. Wir sind in der Oper. Eine Prinzessin, Ginevra, entsteigt dem Baldachinbett. Ihre Zofe, Dalinda, hält ihr bei der Morgentoilette neckisch ein britisches Boulevardblatt entgegen. Auf der Titelseite prangt das Konterfei der Königstochter neben jenem ihres Anbeters. Ihm weiht Ginevra vor dem Spiegel eine lichte Kavatine, deren moderates Tempo (ein beschauliches Andante) und arglose Tonart (ein bukolisches G-Dur) wie auch das Fehlen von Koloraturen – bis auf eine bezeichnend langgeschwungene auf dem Beiwort „begehrenswert“ – den Herzenswunsch der Prinzessin beglaubigen, Charme, Liebreiz und Munterkeit ihres Gesichts möchten dieses für den Geliebten „più vago“, eben: begehrenswerter machen.
Doch unangemeldet betritt ein Herzog das Gemach. Wie wird Ginevra da zur Tigerin! In furiosem F-Dur faucht sie, allegro, den Eindringling an, er sei in ihren Augen grausiger als eine hundeköpfige und fledermausgeflügelte Göttin der griechischen Mythologie. Schlüsselintervall dieser Wut-Arie ist die fallende Oktave, mit welcher das Orchester beim Davonrauschen der Keifenden denn auch tonsymbolisch die Tür zuknallen lässt. Diese Frau kann ebenso sehr lieben wie hassen! Oder könnte es zumindest, zeichneten ihre Interpretin, Olga Kulchynska, und das sie begleitende English Concert unter der behäbigen Leitung von Harry Bicket den Kontrast ebenso scharf wie Händel es in seiner Partitur tut. Doch leider bleibt es in dieser Koproduktion der Pariser Nationaloper und der New Yorker Metropolitan Opera über weite Strecken hinweg bei mal gediegenem, mal generischem Handwerk ohne wirkliche interpretatorische Durchdringung noch emotionales Engagement.
Das gilt weniger beziehungsweise gar nicht für das ungleiche „Liebespaar“, das nach Ginevras Abgang die Lunte an das den ganzen ersten Akt hindurch noch ungetrübte Glück des schottischen Königshauses legt. Zofe Dalinda offenbart dem Herzog Polinesso da ohne Umschweife ihre glühende Flamme, in einer melancholisch-offenherzigen Arie, die diesen indes kaltlässt. Was ihn wirklich interessiert, gesteht er bei geschlossenem Vorhang in einem an Verdis Jago gemahnenden Monolog an der Rampe: Wein und Tabak, die er sich während zweier effektvoller Generalpausen in der Schlusskadenz zu Munde führt, vor allem jedoch Komplottieren, Düpieren und Anschmieren – also das Subvertieren der herrschenden Moral. Diesen Kleingeist, der stets verneint, verkörpert Christophe Dumaux schauspielerisch überzeugend und gesanglich fesselnd. Der gefragte Händel-Spezialist hat die Rolle schon Dutzende von Malen gesungen – aber nichts in seiner Darbietung zeugt von Routine oder gar von Verschleiß. Im Gegenteil investiert der Countertenor den Ertrag seiner durch Arbeit und Erfahrung gewonnenen Sicherheit zurück in Feinschliff und Feuerwerk. Die Koloraturen gelingen ihm nicht nur sauber, sondern auch spielerisch-entspannt (wobei unter der polierten Oberfläche oft etwas Gefährliches lauert); in „Dover, giustizia, amor“ zündet er gar eine atemraubende Kadenz, die sich bis zum zweigestrichenen A aufschwingt, um in einem gebrochenen D-Dur-Dreiklang über mehr als zweieinhalb Oktaven hinweg bis zum kleinen D abzufallen!
Den Rest des Aufzugs herrscht noch Friede, Whisky, Früchtekuchen. Im Grünen stellt sich der Titelheld vor, gleich seiner Geliebten mit zwei kontrastierenden Arien. Beim Zeichnen von Ginevras Portrait stimmt Ariodante eine arkadische Kavatine an (die das Orchester leider wenig duftig begleitet), beim Picknick mit seiner Künftigen intoniert er eine Bravourarie (deren sintflutartige Koloraturen Emily D’Angelo indes auf Nummer Sicher singt). Zwei letzte Nebenfiguren treten auf, der König und Ariodantes Bruder, Lurcanio. Ersterer wirkt hier wie ein herzensgutes Väterchen: Matthew Brook überzieht den Part – durchaus rollenkonform – mit einem leicht monotonen Dauer-Legato. Letzterer ist ein linkischer Freier, der mit Eric Ferrings gepflegter Tenorstimme und einer verstrubbelten Erikapflanze um Dalindas Liebe wirbt. Doch diese hat nur Augen für Polinesso, der ihr (und uns) kurz zuvor mit einer gut fingierten Verführungsnummer den Kopf verdreht hat. Wenig Wunder, vertraut die Zofe nach Genuss des schottischen Nationalgetränks ihr Faible für den abgefeimten Fiesling dem ganzen Saal an: Tamara Banješević singt die betreffende Arie ohne den letzten Schliff, aber mit jugendlichem Timbre und einer glaubhaften Mischung aus Liebestrunkenheit und alkoholischer Sättigung.
Nach diesem ersten Akt, der sich in sonnigem Dur alle Zeit der Welt lässt, jagt der folgende in nächtlichem Moll ein Drama dem anderen nach. Polinesso führt die als Ginevra verkleidete Dalinda in sein Schlafgemach – vor den Augen Ariodantes und des versteckten Lurcanios. Der scheinbar betrogene Liebhaber will sich in sein Schwert stürzen; nicht jedoch ohne zuvor eine Arie gesungen zu haben, deren Eckteilen hier der Furor fehlt und deren Mittelteil der Stupor. Zwar entwaffnet Lurcanio den Bruder, doch vergeblich: In einer weiteren Nummer hält Ariodante an seinem Todeswunsch fest. „Scherza infida“ ist nicht nur das Herz des Dreiakters, sondern eine der größten (und längsten) Händel-Arien überhaupt. Mangels Tempoangabe reichen Darbietungen von unter acht bis zu knapp dreizehn Minuten. Emily D’Angelo wählt – wie Cecilia Bartoli, Magdalena Kožená und Anne Sofie von Otter – einen langsamen Grundschlag. Für diesen besitzt sie neben dem langen Atem auch das tragfähige Pianissimo und die Stütze in der Tiefe. Doch die tödliche Getroffenheit, die man hier spüren müsste, den Verlust nicht nur des Wunsches zu leben, sondern schlicht des Anreizes: Sie vermag die Sängerin nicht zu vermitteln. Möglicherweise auch mangels orchestralem Rückhalt – die beiden Fagotte, denen Händel hier eine tragische Gegenstimme anvertraut, tönen eher schmalbrüstig, dem Continuo mangelt es an Farbe und Raffinement. Desgleichen müsste die Begleitung im Pendant zu dieser Arie, Ginevras „Mi palpita il core“, viel diskontinuierlicher klingen: Marc Minkowski hat in einer wegweisenden Einspielung zu Ohren geführt, wie das Flattern des bangenden Prinzessinnenherzens hier regelrechte kardiale Synkopen zeitigt – die zunehmende Beklemmung frisst Löcher der Stille ins Orchestergewebe.
Das lieto fine wirkt dann aufgesetzt. Robert Carsen überzeichnet die bereits in den beiden ersten Aufzügen gezogenen Windsor-Parallelen im Schlussakt plakativ. Zu Ginevras Arioso, in dessen Verlauf sich jäh die Wendung zum Guten vollzieht, robben Paparazzi am Boden. Während des letzten Duetts wechseln die Brüder mitsamt Dulzineen von Hofkleidung zu Sportswear und wandern, scheint‘s, nach Kalifornien aus. In der (um über die Hälfte gekürzten) Schlussszene endlich tummeln sich tumbe Touristen in Madame Tussauds Kabinett – zwischen Wachsfiguren von Charles, Harry, Meghan und Co. Carsen, dessen beste Inszenierungen sich durch Werktreue ohne Vergangenheitsseligkeit, feinsinnige Personenführung und ästhetisch-abstrakte Ausstattung auszeichnen, tut in dieser Produktion nicht viel mehr als jeder Regisseur, der ratlos vor einer Barockoper steht: möblieren, arrangieren, aktualisieren. „Ariodante“ verlangt (und verdient) mehr Fantasie.
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