1994 nahmen Ruander einen neuen Begriff in ihren Wortschatz auf: „Jenoside“. Dreißig Jahre nach dem letzten Genozid des 20. Jahrhunderts beleuchten sechs französische Publikationen Aspekte des mörderischen Flächenbrands.
Innert hundert Tagen wurden 1994 in Ruanda zwischen 800 000 und 1 Million Tutsi ermordet. Unter ihnen Hunderttausende von Jugendlichen, Kindern und Babys. Es war eine der Besonderheiten dieses letzten Völkermords des 20. Jahrhunderts, schreibt Violaine Baraduc, dass er „die Familie durchquert hat“. Und dass Kindesmord sein Epizentrum bildete. In ihrer Studie „Tout les oblige à mourir“ legt die Anthropologin und Dokumentarfilmerin das Ergebnis zweier monografischer Untersuchungen vor. Seit 2009 nimmt sie die Rolle von Frauen im Genozid an den Tutsi unter die Lupe, mit Fokus auf das, was sie „völkermörderischen Kindesmord“ nennt: Die Tötung von Kindern mit Tutsi-Vater durch die eigene Hutu-Mutter (oder durch nächste Verwandte mütterlicherseits).
2015 stieß Baraduc in einem Gefängnis auf Patricie Mukamana: Diese hatte seinerzeit zwei ihrer Töchterchen vergiftet. Wie kam es dazu? Als das Gemetzel begann, befand sich Patricie in einer Mischehe mit einem Vertreter der Tutsi-Minderheit. Vier Kinder, ein fünftes im Bauch. Ihrem Mann gelang es eine Zeitlang, sich links und rechts bei Hutu-Freunden zu verstecken – bei weitem nicht alle solidarisierten sich mit den Mördertrupps, die sich aus Nachbarn zusammensetzten. Aber fast jeden Tag rückte ein Igitero heran (sinngemäß: eine lautstarke Gruppe bewaffneter Angreifer), drangsalierte Patricie mit Schlägen und zog weiter, um die Häuser der Freunde des Mannes zu durchsuchen. Eines nachts kehrte dieser heim und erhängte sich in der Küche. Auf sich allein gestellt, flüchtete die Mutter mit ihren Kindern zur älteren Schwester. Ausschau haltende Neffen warnten jeweils, wenn ein Igitero im Anmarsch war: So hatte Patricie Zeit, sich in einem Sorghofeld zu verstecken. Doch eines Tages ergriffen die Mörder die Kuh der Schwester – woraufhin diese in Richtung Feld rief, Patricie solle ihre Kinder hergeben. Zwar konnte die Mutter deren Leben fürs Erste freikaufen, doch die Peiniger drohten lachend, andere würden das Werk vollenden. Aus Angst, ihr Haus verwüstet zu sehen und womöglich selbst „wegen dieser Kinder“ getötet zu werden, setzte die Schwester die vaterlose Familie vor die Tür. Kurz vor der Niederkunft stehend und ohne Unterschlupf, gab Patricie den mittleren Töchtern Rattengift und machte sich zum See auf, um sich mit den übrigen Kindern zu ertränken. Doch unterwegs klopfte sie an eine letzte Tür. Der Hausherr, dem Patricies Mann einst eine Kuh geschenkt hatte, versteckte die Restfamilie unter Gefahr fürs eigene Leben bis zum Ende des Genozids. Die Kindesmörderin wurde 2009 zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt – desgleichen die Schwester und zwei der Neffen, wegen Beihilfe zum Mord.
Eine doppelt so lange Haftstrafe erhielt 2010 Béata Nyirankoko. Im Juni 1994 hatte sie versucht, ihre fünf und zwölf Jahre alten Söhne zu ertränken. Ihr Lebensgefährte, ein Tutsi, war kurz zuvor unter nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen; sie selbst befand sich zusammen mit Mitgliedern ihrer tief in den Genozid verstrickten Familie auf der Flucht nach Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo), wohin infolge des Zusammenbruchs des extremistischen Hutu-Regimes Hunderttausende von Völkermördern flohen. Béatas Fall ist zugleich komplex und exemplarisch. Bis zum Ertränkungsversuch eine liebende Mutter, die ihre Kinder vor den Häschern zu schützen trachtete, sagte sie sich danach von ihren Söhnen los, ließ sie auf der Flucht zurück und bezeugte dem Älteren, als er 1999 zu ihr zurückkehren wollte, nichts als Aggressivität (den Jüngeren suchte sie erst gar nicht wiederzusehen).
Laut Baraduc gliederte sich Béata, ohne Mann noch Mittel, ihrer Familie wieder an – eine „Reaffiliation“ um den Preis der Verleugnung ihrer „Mesalliance“ mit einem Tutsi sowie der Früchte, die diese hervorgebracht hatte. Um die Sache noch komplizierter zu machen, schwebte ein drittes Kind, eine Tochter, nie je in Gefahr, wiewohl durch denselben Vater gezeugt wie die Brüder: Zum Teil durch Béatas Eltern aufgezogen, war die Kleine diesen ans Herz gewachsen. Wohingegen die beiden Buben durch Béatas Brüder auf der Flucht fast täglich bedroht wurden – was den Beschluss der Mutter, sie zu ertränken, maßgeblich mitbeeinflusste. Der Fall zeigt klar, dass Tutsi war – und also gemäß der völkermörderischen „Logik“ sterben musste –, wer zum Tutsi abgestempelt wurde.
Baraduc zitiert zwecks Kontextualisierung noch weitere Fälle. Ein Großvater brachte seine Enkel um, derweil seine schwangere Tochter auf dem Feld arbeitete. Eine Mutter jagte sieben ihrer Söhne aus dem Haus und führte die drei kleinsten, als sie zurückkehrten, selbst den Schlächtern zu. Eine andere vergiftete unter dem Druck eines Igitero vier ihrer Kinder; eine Dritte gab ihrem bereits halb erschlagenen Säugling auf Befehl eines Mörders mit einer Keule den Gnadenstoß. Aus den konfusen Erzählungen schält sich ein Schuldspektrum heraus zwischen handfester Verteidigung materieller Interessen und Quasi-Unzurechnungsfähigkeit infolge tage-, ja wochenlanger Hetzjagd über Hügel voller Todesschwadronen. Manche plagen nach begangener Tat schwerste Schuldgefühle, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen; andere weisen jede Verantwortung von sich.
*
Baraducs Buch ist repräsentativ für französische Neupublikationen zum Völkermord an den Tutsi. Es handelt sich bei diesen durchweg um Spezialabhandlungen, die je eine Facette des Themas beleuchten. Einen Extremfall bildet „Les Chants du génocide“ von Christian Pariot, das die Gesänge des Gemetzels analysiert. Der Band schlägt einen Bogen von den Liedern der Hutu-Mörder, die in tradierten musikalischen Formeln und in den Mythenbildern eines „ewigen Ruanda“ wurzeln, über die ungleich weltoffeneren, „universelleren“ Gesänge der Tutsi-Befreiungskämpfer zu den – zunächst ausschließlich von Frauen intonierten – Trauer- und Gedächtnisliedern der Überlebenden: schier melodielosen Threnoi, der Stille abgetrotzt.
Die gewiss lesenswerte Untersuchung wendet sich – wie Baraducs Studie über den „völkermörderischen Kindesmord“ – eher an Spezialisten. Der auf Französisch noch immer fälligen Gesamtdarstellung ungleich näher kommt da ein bereits zehn Jahre alter Band, der jetzt in erweiterter Form wiederaufgelegt wurde: „Le Génocide au village“ von Hélène Dumas. Die fulminante Feldstudie, längst ein Klassiker, analysiert den Völkermord mitsamt Davor und Danach am Beispiel einer ländlichen Gemeinde etwa zehn Kilometer nördlich der Hauptstadt Kigali. Ein in jeder Hinsicht „mittlerer“ Ort mit 50 000 Einwohnern (davon – vor 1994 – etwa 11 Prozent Tutsi, was dem einstigen Landesschnitt entspricht) ohne größere sozioökonomische Probleme noch nennenswerten Extremismus. Bis 1990 amtierte dort ein Tutsi als Bürgermeister.
„Le Génocide au village“ basiert auf Dumas‘ Beiwohnen an sechsunddreißig Gacaca-Prozessen (den zwecks Aufarbeitung der Genozid-Verbrechen zwischen 2002 und 2012 tätigen „Wiesengerichten“), auf den aus jeweils mehrstündigen Interviews hervorgegangenen „Lebensberichten“ von siebzehn Tätern, Opfern, Richtern und Zeugen sowie auf Fußmärschen zu den Tötungsstätten. Die Historikerin ist zum Fluss Nyabarongo gewandert, zu dessen Ufern Tutsi in „makabren Märschen“ geführt wurden, um ertränkt zu werden, sie hat den Felsen von Nyarubande erstiegen, von dem Unglückliche viele Hundert Meter in die Tiefe gestoßen wurden, sie hat die Standorte zerstörter Kirchen aufgesucht, die – wie überall im Lande – als Schlachthäuser für Menschenvieh entweiht wurden, sie hat die Spuren der Latrinen gefunden, deren Schächte vorzugweise mit zerstückelten Kinderleibern gefüllt wurden, und sie hat die Terrassenfelder abgeschritten, auf denen eingefangene Fliehende mit Harke und Spaten ermordet wurden.
Mit Nachdruck arbeitet Dumas den fundamentalen Unterschied zu den Massakern von 1959, 1961, 1964 und 1973 heraus: 1994 wurden Tutsi nicht durch ortsfremde Soldatenverbände oder Milizen ermordet, sondern durch ihre nächsten Nachbarn – Menschen, mit denen sie Trank, Vieh und (via Mischehen) Frauen zu teilen pflegten. Entgegen einer von Leugnern des Völkermords verbreiteten Vorstellung handelte es sich bei diesem mitnichten um eine spontane Aufwallung von Volkszorn nach dem Abschuss des Flugzeugs des Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994. Vielmehr war der Genozid von langer Hand vorbereitet gewesen. In der praktischen Planungsphase befand er sich, seit am 1. Oktober 1990 Verbände der Armée patriotique rwandaise von Uganda aus in Ruanda eingefallen waren. Die APR setzte sich aus Tutsi zusammen, die infolge der erwähnten Massaker in Nachbarländer geflohen waren – und dort seit Jahrzehnten lebten, oft sogar in zweiter Generation. Wie sein Vorgänger, den er 1973 gestürzt hatte, verwehrte Habyarimana den auf mindestens eine halbe Million geschätzten Exilanten jede Perspektive auf Rückkehr.
Das Scharmützel vom Herbst 1990 endete – dank militärischer Hilfe Belgiens, Frankreichs und Zaires – mit einer raschen Niederlage der APR. Doch Ruandas Regime suchte von da an – mit Erfolg – im Geist der Mehrheitsbevölkerung einen quasi zivilisatorischen Gegensatz zwischen demokratisch-republikanischen Hutu und feudal-monarchistischen Tutsi einzupflanzen. Letztere erstrebten, so die Propaganda, das einstige Königtum wiederherzustellen und so die Errungenschaften der Revolution von 1959, die zur Unabhängigkeit geführt hatte, rückgängig zu machen. Alle nur erdenklichen Klischees und Mythen wurden gegen die Tutsi ins Feld geführt, von ihrer angeblichen Verschlagenheit und Verweichlichung bis hin zu ihrem imaginären Kannibalismus und zu den Hörnern und Schwänzen, die sie trügen. Die Hetze verfing: Ab 1990 wurde jeder Tutsi als ein potenzieller APR-Kämpfer angesehen – was einen massiven Anstieg der Ausweiskontrollen und der Zahl der Checkpoints im Lande nach sich zog.
Zugleich verwischte sich der Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten. Waffen wurden an die (Hutu-)Bevölkerung verteilt, Bürgerwehren gebildet, jede Partei gründete eine milizartige Bewegung (die Präsidentenpartei etwa die berühmt-berüchtigten Interahamwe-Rotten). Doch widersetzten sich nicht wenige Berufssoldaten dem am Abend vom 6. April 1994 beginnenden Genozid – wohingegen „Normalbürger“ nicht bloß den Aufrufen von Honoratioren folgten, sondern diese mit ihrem mörderischen Eifer oft überrumpelten, in mannigfacher Hinsicht Initiative an beweisend. Es gab keine kleinen und großen Exekutanten, keine „Hirne“ und „Hände“. „Je enger man den Fokus fasst“, so Dumas, „desto stärker sticht ins Auge, wie viel ‚Volkswissen‘ bezüglich der Topografie, der intimen Kenntnis des sozialen Gefüges sowie des Umgangs mit Waffen in die Massaker geflossen ist.“
*
Der Völkermord an den Tutsi war völlig vorhersehbar. Kassandren hatten schon Jahre im Voraus vor ihm gewarnt. Mehr als jedes andere Land trägt Frankreich die Schuld, den Genozid nicht nur nicht verhindert, sondern ihn sogar ermöglicht zu haben (wenngleich nicht mit Absicht). In „La France face au génocide des Tutsi“, der gewichtigsten französischen Neupublikation zum Völkermord, erstellt Vincent Duclert auf gut fünfhundert Seiten die lange Liste der Verfehlungen von François Mitterrand und seinen Mitarbeitern, die zu einem „politischen und moralischen Zusammenbruch“ führten. Denn es waren der 1988 im Amt bestätigte Präsident und seine Kollaborateure im Elysée, die sämtliche Warnungen in den Wind schlugen und dem zunehmend radikalen Regime Habyarimanas ab 1990 ohne Wenn und Aber unter die Arme griffen. Frankreich lieferte Waffen, stellte Instrukteure und übte nie je Druck aus, wenn es gegolten hätte, größere Menschenrechtsverletzungen und kleinere Massaker zu ahnden („klein“ hieß nach damaligen Maßstäben: mit Opferzahlen im drei- bis unteren vierstelligen Bereich).
Warum dieser (fast) bedingungslose Schulterschluss? Die einstige deutsche Kolonie Ruanda stand seit 1916 unter belgischer Schirmherrschaft. Frankreich bezeugte seit der Unabhängigkeit 1962 Interesse für das kleine Land als einem natürlichen Mitglied des durch de Gaulle abgesteckten „champ“, dem „Feld“ der einstigen französischen Kolonien und der frankophonen Staaten in Afrika, mit deren Hilfe sich die Ausdehnung des anglo-amerikanischen Einflussbereichs verhindern ließ. Nach dem Mauerfall wurde dieser „Kampf der Kulturen“ zu einer Obsession Mitterrands; Ruanda sollte darin die Rolle eines Vorpostens im englischsprachigen Osten des Kontinents einnehmen. Durch dieses Prisma gesehen, erschien die APR als ein fremder, durch das anglophone Uganda gestützter Aggressor, im Innern sekundiert durch Guerillakämpfer (alle inländischen Tutsi galten dem Elysée potenziell als solche). Beides entbehrte jeder faktischer Grundlage, aber durch Kenner des Terrains etablierten Fakten zogen Mitterrand und seine Gefolgsmänner, was Hutu und Tutsi betraf, ideologische Hirngespinste vor.
Minuten nach dem Abschuss von Habyarimanas Flugzeug begann Ruandas Präsidentengarde am 6. April 1994, anhand vorbereiteter Listen Tutsi sowie sogenannte „moderate“ Hutu zu ermorden (als „moderat“ galt, wer den 1992 lancierten Friedensprozess mit der APR befürwortete). Frankreich beeilte sich, das Abfeuern der fatalen Rakete den Tutsi anzukreiden – die Autorschaft des Präsidentenmords ist bis heute ungeklärt, doch führt die weitaus überzeugendere Piste ins Lager der Hutu-Extremisten. Den auf Hochtouren laufenden Genozid (in den Anfangswochen wurden Tag für Tag 20 000 Tutsi niedergemetzelt) wollte keines der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats vor dem 8. Juni (!) anerkennen, aus Furcht, sonst handeln (sprich: Truppen entsenden) zu müssen. Ja, Frankreich stimmte – wie die USA – für eine Verkleinerung des seit Jahresanfang im Lande stationierten Blauhelm-Kontingents von 2500 Köpfen auf deren 300. Das Blutbad, hieß es in Paris, gründe in ethnischen Fehden – ein altes Afrika-Klischee –, an denen die „linkstotalitaristischen Schwarzen Khmer“ der APR ihren Teil Verantwortung trügen.
Eine endlich am 22. Juni unter humanitärem Deckmantel lancierte französische Militäroperation mit dem Segen der UNO ging aus Furcht vor Tutsi-Attacken (sic) derart vorsichtig zu Werke, dass die Mörder vielerorts Zeit hatten, ihre Ausrottungsarbeit zu vollenden. Duclert nennt hier, Pars pro Toto, das entsetzliche Los vieler Hunderter von Überlebenden auf dem Hügel Bisesero am Kivu-See: Am 27. Juni durch einen französischen Spähtrupp entdeckt, wurden sie mangels Befehl von oben drei Tage lang den Schlächtertrupps überlassen. Einfache Fußsoldaten wie hohe Militärvertreter sind bis heute traumatisiert durch das, was sie als einen Verrat an ihren Idealen und als eine Entehrung ihres Berufseids empfinden.
Kenner des Terrains wie der Militärattaché René Galinié oder der Chef der Mission für militärische Zusammenarbeit Jean Varret waren mit ihren seit Jahren formulierten dringlichen Warnungen vor einem drohenden Genozid da schon längst in Ungnade gefallen. Mitterrand und seine Mitarbeiter brachten missliebige Stimmen zum Schweigen, hebelten Parlament und Premierminister aus, schufen parallele Befehlsstrukturen – und negierten am Ende gar den Völkermord durch ihre abstruse These vom double génocide: Alle Ruander seien Opfer und zugleich Täter gewesen. So stahlen sie sich aus der Verantwortung, das Regime gestützt und vor seiner Radikalisierung beide Augen verschlossen zu haben.
Es ist Emmanuel Macrons Verdienst, 2019 eine unabhängige Historikerkommission eingesetzt zu haben, die unter Duclerts Leitung 2021 einen schonungslos kritischen Bericht zur Rolle Frankreichs im Völkermord an den Tutsi vorlegte. Dieser bereitete den Weg für die überfällige Aussöhnung mit Ruanda nach einem Vierteljahrhundert heftiger Spannungen. „La France face aus génocide des Tutsi“ bildet gleichsam die aktualisierte Aufbereitung des 1200-seitigen „Rapport Duclert“ fürs große Publikum. Man möchte nach der Lektüre des Buchs dem Verfasser Recht geben, Frankreichs Ruandapolitik zwischen 1990 und 2019 bilde den „wohl größten Skandal der Fünften Republik“.
*
Gleich Duclert, der von Haus aus über europäische Völkermorde forscht (insbesondere über jenen an den Armeniern), hat der Genozid an den Tutsi etliche Kapazitäten „aus der Bahn geworfen“. Ein Sammelband mit dem sprechenden Titel „Le Choc“ vereint so achtzehn (Doppel-)Zeugnisse zur jeweiligen Erschütterung, die eine Autorin oder einen Autoren bewegt hat, sich mit dem mörderischen Flächenbrand von 1994 zu befassen – wozu die Mehrzahl von ihnen nicht vorbestimmt war. Laurent Larcher etwa, der heute für die katholische Zeitung „La Croix“ über das subsaharische Afrika berichtet, war als Geschichtsstudent 1994 einem katholischen Hilfswerk beigetreten, um das Leid der Tutsi zu lindern. Das Wirken Roms und seiner Vertreter vor, während und nach dem Genozid geißelt er in den harschesten Tönen: „Beeinträchtigtes Urteilsvermögen, kognitive Beschränkungen, Mangel an Empathie für die Opfer, Hang zum Decken der Verbrecher und zum Verschweigen ihrer Taten, Kultur der Verleugnung, der Furcht vor dem Skandal, des Geheimnisses und Stillschweigens“ – dieselben Missstände, die auch dem Missbrauchsskandal zugrunde lägen. Philippe Denis, emeritierter Professor für Geschichte des Christentums, schlägt in dieselbe Kerbe. Wohl hätten einzelne Pfarrer, Priester, Geistliche seinerzeit Leben gerettet, doch als Kollektiv habe sich keine der Kirchen zu einer Verurteilung des laufenden Genozids aufgerafft. Und einzig die – wegen der Nähe ihrer Verantwortlichen zum Mörderregime nach 1994 runderneuerte – Presbyterianische Kirche habe seitdem ihre Schuld eingestanden und um Vergebung gebeten.
Auch Jean-Philippe Schreiber befasst sich als Universitätsprofessor mit Religionsfragen. Er schildert das prägende Erlebnis der Begegnung mit negationistischen Strategien, als er 2019 in Brüssel einem Prozess gegen einen ruandischen Völkermörder beiwohnte. Da ist zunächst das Verunklaren der Verantwortung in einer trüben Suppe aus „Unruhen“, die durch „Banditen“ und „Plünderer“ verursacht worden seien und deren „wahre Urheber“ es noch zu finden gelte. Sodann die Behauptung, die Opfer seien nicht getötet worden, weil sie Tutsi waren, sondern weil sie für die APR kämpften –Vertreter einer fünften Kolonne sozusagen. Endlich die perfide Insinuation, der Tod der „inneren“ Tutsi sei durch die „äußeren“ bewusst in Kauf genommen, ja provoziert worden, um sich so die Sympathie des Auslands bei der „Rückeroberung“ Ruandas zu sichern. Der Machtwechsel in Kigali sei dabei nur Teil eines machiavellistischen Plans zur Schaffung eines Groß-„Tutsilands“ gewesen. Als „Beweis“ für diesen wird ein angeblicher Kolonisierungsplan aus dem Jahr 1962 angeführt – ein Machwerk in der Art der antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“.
*
Letzterer Vergleich kommt nicht von Ungefähr: Die Tutsi galten im 20. Jahrhundert als die „Juden Afrikas“. In der an den Rassenideologen Arthur de Gobineau angelehnten Klassifizierung, die sie von Ruandas Bevölkerung vornahmen, ordneten belgische Missionare und „Wissenschaftler“ die Tutsi einem „hamitisch-semitischen“ Typus zu und charakterisierten sie als höflich, verschlagen, frauen-, geld- und machtgeil. Zudem seien sie, als ewige Fahrende, nirgends je heimisch. Jean-Pierre Chrétien, einer der besten Kenner Ruandas, arbeitet in „Combattre un génocide“, einer Blütenlese seiner Schriften aus drei Jahrzehnten, die rassisch-völkische Ideologie heraus, die Propagandisten des Hutu Power seit 1962 skizzierten und nach dem ersten Einfall der APR auf den Punkt brachten. Ein „tropischer Nazismus“, wie der Autor schreibt, erst mit Berufsquoten und „ethnischem“ Stempel im Ausweis, nach 1990 dann mit einem biologischen, auf der „Reinheit des Blutes“ gründenden Rassenwahn mit „Endlösungs"-Finalität.
So war der Genozid an den Tutsi ein Kind der Moderne – und auch eines der Politik. Denn neben ihrer ideologischen Motivation hatte die Vernichtung der „Juden Afrikas“ auch eine prosaisch handfeste: Jene, das Regime von Habyarimana und der Drahtzieher und Blutsauger aus dem nordwestlichen Präsidentenclan im Sattel zu halten. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, der Unmut über die Kleptokratie, aber auch schlicht die Weigerung nachwachsender „moderater“ Hutu, die den Tutsi-Mitbürgern auferlegte Apartheid mitzutragen, hatten die Popularität des Präsidenten und seiner Entourage schwer angeschlagen. Wie allen autoritären Regimes, die einen Krieg anzetteln, ging es auch diesem um die Sicherung der inneren Macht. Den Völkermord durch „alteingesessenen Hass“ zwischen „verfeindeten Stämmen“ erklären zu wollen, mache ebenso wenig Sinn, schreibt Chrétien pointiert, wie die Shoah auf einen interethnischen Kampf zwischen Arier und Semiten zurückzuführen. Hutu und Tutsi sprächen dieselbe Sprache, glaubten an denselben Gott, lebten auf denselben Hügeln und unterschieden sich bloß durch ihre beruflichen Vorlieben. Sie bildeten keine Stämme oder gar Völker, allenfalls „Super-Clans“.
*
In Ruanda haben Menschen ihre Nachbarn, Freunde und Verwandten auf bestialische Art und Weise „vernichtet“. Und dabei, wie eingangs geschildert, auch vor Kindern nicht haltgemacht. Ideologie ist das tödlichste aller Gifte. Wem diese mittlerweile dreißig Jahre alte Tragödie, die sich auf einem fremden, fernen Kontinent abspielte, nicht wirklich nahegeht, dem gibt vielleicht der Bogen zu denken, den Chrétien zur Jetztzeit und zur sogenannten Ersten Welt schlägt. „Die Faszination für Identitäres“, argumentiert der Historiker, „liefert Nordamerika und Europa heute wieder Denkstoff – sei’s, um Diskriminierungen zu rechtfertigen, sei’s, um kommunautaristische Forderungen zu begründen. Die Achtung für die Würde eines jeden Menschen, heißt es da, gleich welcher Hautfarbe, Religion oder Geschlechtsidentität, bedinge einen Essentialismus: Jedes Mitglied dieser oder jener Gruppe müsse ‚erwachen‘ und prioritär seine Zugehörigkeit zu Seinesgleichen bezeugen.“ Die Theoretiker des Hutu Power hätten seinerzeit genau ein solches „Erwachen zur unbedingten Gruppenidentität“ postuliert. Die Folgen seien bekannt…
Comments