Die Bassins des Lumières in Bordeaux bieten „immersive Ausstellungen“ in einem nazideutschen Mastodon aus Stahlbeton.
Archivstücke – Texte, die nicht mehr brandaktuell sind, aber hoffentlich noch immer lesenswert
Als Ergänzung zum letztwöchigen Artikel über Culturespaces – einer Mischung aus Essay und Hintergrundbericht –, hier die Reportage, die ich 2020 anlässlich der Eröffnung der Bassins des Lumières in Bordeaux verfasst habe, dem weltgrößten Zentrum für digitale Kunst.
Wir sind in der Box Nummer vier des U-Boot-Bunkers, am Ende des hundertzehn Meter langen Wasserbeckens. Es ist dunkel, die Luft fühlt sich lau und feucht an. Aus flauer Ferne dringt der Widerhall von Werftarbeiten: kreischendes, sirrendes, geschlagenes Metall. Ein Warnlicht färbt die Betonwände blutrot – langsam taucht ein U-Boot aus dem Hafenbecken auf und gleitet durch das geöffnete Portal in seinen Liegeplatz. Immer bedrohlicher türmt sich das Monstrum vor den Besuchern auf, doch jäh erfolgt ein Szenenwechsel. Alles wird schwarz, ein Echolot ertönt, über die Wände flimmern blassblaue Diagramme, die gegenständliche Bilder gebären: Propeller, Ventile, Röhrensysteme; eine Landkarte der französischen Atlantikküste; Schwarzweißfotos von Hafenarbeitern und -anlagen; endlich bunte Gemälde aus diversen Epochen.
Mit diesem multimedialen Vorspann präsentieren sich die Bassins des Lumières ihren Besuchern. Am 10. Juni eröffnet, ist dieses Zentrum in den vier ersten Boxen des ehemaligen nazideutschen U-Boot-Bunkers von Bordeaux untergebracht. Gewaltige Dimensionen, industrielles Ambiente, geheimnisvolles Dunkel, spiegelnde Wasserflächen – die brutalistische Betongrotte bildet eine patente Bühne für Licht- und Ton-Vorstellungen. Kernstück des Eröffnungsprogramms ist eine Multimedia-Schau mit dem Titel „Gustav Klimt, aus Gold und Farben“.
Die halbstündige Produktion ist in sechs Tableaus unterteilt. Zu den pompösen Posaunen-Klängen von Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre werden Detailaufnahmen von Wiener Gründerzeitbauten auf die Wände projiziert. Fotos vom Ausstellungsgebäude der Wiener Secession, und namentlich von Klimts Beethovenfries darin, leiten über vom Historismus zum Jugendstil. Die dritte Sequenz zeigt Klimts berühmteste Schöpfungen in einem schillernden Regen „aus Gold und Farben“: „Der Kuss“, „Danae“, „Adele Bloch-Bauer I“… Ein der Welt abhanden gekommenes Mahler-Lied begleitet eine beschauliche Promenade durch Landschaftsbilder, derweil eine reißerische Rachmaninoff-Bearbeitung eine Montage von Schiele-Bildern untermalt. Das apotheotische Finale endlich vermählt – erstaunlich glücklich – Lehár und Puccini, zu deren ätherischen Klängen Klimts schönste Frauenfiguren gen Himmel schweben.
Die Reproduktionen der ausgewählten Kunstwerke werden auf fast alle vertikalen Flächen geworfen. Und auch auf etliche Böden, ja sogar auf zwei flache „Ankerbojen“, die auf den schwarzen Wassern wie riesige Seerosenblätter schwimmen. Um die 12 000 Quadratmeter (!) Projektionsfläche zu füllen, sehen sich die originalen Gemälde und Zeichnungen nicht nur um ein Vielfaches vergrößert, sondern je nach Bedarf auch zu Serien geklont beziehungsweise auf zentrale Elemente zusammengestutzt. Mitunter werden einzelne Figuren gar herausgelöst und in eine neue Umgebung versetzt – etwa Judith aus dem gleichnamigen Gemälde und der rothaarige der drei „Goldfische“, die vor dem Hintergrund eines Goldpailletten-Gestöbers enigmatisch zu den Besuchern hinablächeln.
Eine „immersive Ausstellung“ nennen die Betreiber der Bassins des Lumières diese Multimedia-Schau. Das Wort „immersiv“, das unter anderem das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung meint, ist im Kontext einer U-Boot-Basis gewiss nicht schlecht gewählt. Aber von Ausstellung kann keine Rede sein. Es gibt hier keine Exponate, keine Frage- oder Problemstellung, keinen Parcours, der einen schrittweisen Erkenntnisgewinn räumlich versinnbildlichen würde. Zwar führen auf dem Quai zwischen den beiden letzten Becken zehn Wandtafeln allerlei Informatives auf zu „Klimt, aus Gold und Farben“ sowie zu einer zweiten, kürzeren Schau über Paul Klee – namentlich ein Resümee der grob chronologischen Sequenzen. Doch die Struktur der beiden Produktionen ist auf Anhieb kaum fassbar: Im Halbstundentakt erhalten die Besucher Einlass, die Klimt- und Klee-Schauen indes laufen mitsamt Vorspann in einer 48-minütigen Endlosschlaufe. Man steigt also fast sicher irgendwo mittendrin ein.
Bezeichnet Bruno Monnier, der Gründer von Culturespaces, der Muttergesellschaft der Bassins des Lumières, die „Lichterbecken“ als ein Zentrum für digitale Kunst, das Leuten, die nicht ins Museum gehen, das Reich der großen Malerei erschließen werde, und Kunstkennern statt einer „statischen Kontemplation“ eine „emotional sehr starke Sinneserfahrung“ bieten möge, schüttelt der Fachmann bloß den Kopf. „Klimt, aus Gold und Farben“ sowie die nachfolgende Klee-Schau ermöglichen mit keinem der darin gezeigten Werke eine wirkliche Begegnung. Keines von ihnen ist in seinen originalen Farben, seinen Dimensionen, seiner Materialität (Farbauftrag, Pinselstrich, Erhaltungszustand…) erfahrbar. Zugespitzt ausgedrückt, fungieren diese Werke hier lediglich als Versatzmaterial für die Schaffung immaterieller bewegter Tapeten.
Was nicht heißen soll, dass die Bassins des Lumières – nach den provenzalischen Carrières des Lumières (2012), dem Pariser Atelier des Lumières und dem südkoreanischen Bunker des Lumières (beide 2018) das vierte und größte Zentrum dieser Art – jeglicher Qualität entbehrten. Die beiden bis Anfang 2021 laufenden Schauen könnte man irgendwo zwischen Disneys Geniestreich „Fantasia“ und einer digitalen Nummernrevue verorten: Jede Sequenz hat ihre eigene Farb-, Form- und Klangwelt. „Paul Klee, mit Musik malen“ überzeugt sogar noch mehr als das Klimt gewidmete Hauptstück, geht diese Produktion doch unbefangener mit den Originalwerken um – sie werden frisch und frech zu teils traumhaften, teils clownesken Animations-Szenen verwurstet. Vielleicht bricht sich hier ja ein neues Genre Bahn: multimediale Raumkunst frei nach großen Meistern.
Vor allem jedoch ist die Infrastruktur eine Wucht. Das meint nicht nur die achtzig Lautsprecher und neunzig Videoprojektoren, die jene im Pariser Atelier des Lumières – wo zurzeit eine müde Schau über „mediterrane“ Malerei läuft – bei weitem übertreffen. Sondern vor allem den Bau, mit seiner mehr erhebenden als erdrückenden Monumentalität und seinen fast 10 000 Quadratmetern Wasserfläche. Innert neunzehn Monaten durch 6500 Arbeiter errichtet (darunter ein gutes Drittel spanische Kriegsgefangene), konnte der fünfte nazideutsche U-Boot-Bunker an der Atlantikfront bis zu fünfzehn Tauchboote beherbergen. Seine 600 000 Kubikmeter Stahlbeton machten das durch Bombenangriffe kaum angekratzte Mastodon auch nach dem Krieg unzerstörbar. Zeitweilig durch die französische Marine, den Freihafen Bordeaux und ein ephemeres Konservatorium für Freizeitschiffsfahrt genutzt, beherbergte der Bunker seit der Jahrtausendwende zeitgenössische Kunstausstellungen sowie Musik- und Theateraufführungen. Während der im Norden aufragende Turm weiterhin durch die Stadtverwaltung bespielt wird, sind die Boxen fünf bis elf zurzeit für eine wirtschaftliche und kulturelle Umnutzung ausgeschrieben.
Für die Boxen eins bis vier verpflichtet ein Fünfzehnjahresvertrag Culturespaces zur Zahlung einer festen Miete sowie einer je nach Umsatz variierenden Gebühr. Der 1990 gegründete Kulturveranstalter ist laut Bruno Monnier der fünftgrößte in Frankreich – und europaweit sogar der größte private! Er zählt 400 Mitarbeiter und erwirtschaftete letztes Jahr 65 Millionen Euro. Seine zwölf Standorte zogen 2019 viereinhalb Millionen Besucher an. Neben den vier Lumières-Zentren (weitere Ableger sind in Amsterdam, Chicago, Dubai, New York und Seoul geplant) betreibt Culturespaces auch Baudenkmäler (das altrömische Theater von Orange, die Arena von Nîmes…), Kunstzentren (das Hôtel de Caumont in Aix-en-Provence) und Museen (die Musées Jacquemart-André und Maillol in Paris…). Die Ausstellungen in Paris und Aix-en-Provence genügen internationalen Museumsstandards; ihre Fragestellungen sind oft fesselnd. Was Monnier im Gespräch bedauert? „Dass hierzulande die Leiter öffentlicher Museen in Bezug auf die Zusammenarbeit mit privaten Kulturveranstaltern oft ideologische Scheuklappen tragen.“
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