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marczitzmann

Verstörte Nacht

Lichtspielszenen als Musikbegleitung: In einer multimedialen Pariser Produktion erklärt der Filmregisseur Bertrand Bonello dem Komponisten Arnold Schönberg seine Flamme

 


Die Traumwanderung durch Leben und Werk von Arnold Schönberg, die der französische Filmregisseur Bertrand Bonello in der Philharmonie de Paris inszeniert, trägt den Titel „Transfiguré“. Ein Verweis auf das Streichsextett „Verklärte Nacht“, mit dem die aufwendige Produktion anhebt. Treffender als „verklärt“ wäre indes das Epitheton „verstört“, schlägt der Parcours doch in zwölf Stationen und ebenso vielen Werk(ausschnitt)en einen Bogen von postromantischer Liebesemphase zu pränazistischer Lebensbedrohung, bevor am Schluss dann Bilder von Wut und Zerstörung die in „Kol Nidre“ 1938 vertonte Hoffnung auf universelle Versöhnung negieren.


(Bild: Mathias Benguigui – PASCOandCO)

Im Eingangsbereich der Grande Salle Pierre Boulez sind die vorderen Parkettreihen von den Sitzen befreit. An ihrer statt rahmt ein erhöhter, weißglänzender „Laufweg“ einen „Orchestergraben“ auf Bodenniveau ein. Aus völligem Dunkel leuchten sukzessiv die betreffenden Pulte des Orchestre de Paris auf, die unter der Leitung von Ariane Matiakh den Beginn der Streichorchesterfassung von „Verklärte Nacht“ spielen. Die Schauspielerin Julia Faure, in Bonellos letztem Film „Coma“ (2022) mit der Titelrolle betraut, betritt im Abendkleid links den Laufweg. Bald führt sie einen stummen Dialog mit Adrien Dantou, den die Projektion eines Films auf einen raumhohen weißen Kettenvorhang im Wald von Fontainebleau zeigt – wo (Alb-)Traumszenen von „Coma“ spielten. Und auch Melisandes Tod am Ende der symphonischen Dichtung „Pelleas und Melisande“ zeitigt einen versteckten Verweis auf Bonellos Filmografie: Die Kamera vollführt da einen vertikalen Schwenk vom Himmel über die Wipfel herab zum Gesicht des jungen Mannes am Fuß der Bäume – eine Bewegung, die sich noch schwindelerregender am Ende von „Haus der Sünde“ („L’Apollonide“, 2011) fand, mit einem „kopfüber“ vollführten Schwenk über ein Buntglasdach hinweg.


Zwischen Fontainebleau und Paris, Wald und Philharmonie (Bild: Mathias Benguigui – PASCOandCO)

Nach dem Epilog der Tondichtung, dessen harmonische Fortschreitungen von bezwingender Originalität und sehrender Sogwirkung das tonale System auf einen Höhe- wie Endpunkt führen, wirkt das mittlere der Drei Klavierstücke op. 11 wie ein Eintauchen in die Eiswasser der Atonalität. David Kadouch, in einem weißen Lichtquadrat am schwarzen Flügel sitzend, temperiert den Schock durch weichen, fülligen Anschlag. Leitsätze des Komponisten leuchten auf zwei seitlichen Bildschirmen auf, diverse Selbstportraits (darunter das berühmte „blaue“ von 1910) auf dem Vorhang. Wenig stringent wirkt, dass mit „Friede auf Erden“ sogleich wieder eine Rückkehr zur Tonalität erfolgt – um diese dann mit den Fünf Orchesterstücken op. 16 definitiv aufzugeben. Bonello lässt hier blitzende Meerbilder über den Vorhang irrlichtern, derweil das finstere Monodram „Erwartung“ durch Nachtkameraaufnahmen menschlicher und tierischer Phantomgestalten begleitet wird. Ein Exzerpt aus einem Radiogespräch von 1931, in dem Schönberg zukünftige „Lichtspiele“ imaginiert, „die notwendigerweise künstlerisch sein werden müssen“, hat Bonello gewiss auch auf sein eigenes, hochartistisches Filmschaffen bezogen.


(Bild: Mathias Benguigui – PASCOandCO)

Mit dem zweiten Teil von „Pierrot lunaire“ taucht der Abend dann endgültig in düstere Gefilde ein. Blutstropfen spritzen in Zeitlupe über den Vorhang, Tintenkleckse formen Bilder der Depression, Traumschilderungen, wie sie Charlotte Beradt zwischen 1933 und 1939 im Hitlerreich aufzeichnete, zeugen von Strategien des Unterbewusstseins, gegenwärtiges – und noch größeres drohendes – Unheil zu verdrängen. Nicht von Ungefähr tragen die Orchestermitglieder auf weißer Bühne über schwarzen Hosen nunmehr rote Hemden – die Farben der NS-Fahne. Bilder beschädigter Babypuppen evozieren den Holocaust, den Schönberg 1947 in „A Survivor from Warsaw“ thematisierte – musikalisch überwältigend, textlich allzu plakativ. Den Hoffnungsfunken, der im eingangs erwähnten „Kol Nidre“ mit seinen tonalen Versatzstücken aufglimmt, bringt Bonello mit Bildern brennender Wälder und einstürzender Eisberge am Ende wieder zum Erlöschen. Die nächste selbstverursachte Katastrophe rollt bereits auf die Menschheit zu.


Masken des Bösen: Die Mitglieder des Orchestre de Paris und seines Chors tragen die Farben der NS-Fahne. (Bild: Mathias Benguigui – PASCOandCO)

Der Regisseur ist, wie bekannt, kein Optimist. Etliche seiner Filme handeln vom Leiden in und an der Gegenwart und zeichnen eine Entwicklung zum (noch) Schlechteren nach. „Auf Krieg“ („De la guerre“, 2008) verfolgt, wie ein Alter Ego Bonellos auf der Suche nach Lebenssinn und -freude in sektiererischem Wahn versinkt. „Haus der Sünde“, dessen zwei Teile kurz vor und kurz nach der symbolträchtigen Wende zum Jahr 1900 spielen, illustriert am Niedergang eines Luxusbordells den Wandel des ältesten Gewerbes der Welt – aber auch, und grundsätzlicher, die Entzauberung der (westlichen) Welt und die diffuse Desillusion, deren Gift die Seelen so vieler Mitglieder sogenannter Wohlstandsgesellschaften zerfrisst. Das gilt etwa für die Titelfigur von „Saint Laurent“ (2014) in den Schlüsseljahren zwischen 1967 und 1976, als aus dem fragilen, aber durchaus lebenslustigen Wunder-Couturier der Schmerzensmann der Pariser Modewelt wird. Oder für die Hauptfigur von „Coma“, die gleich vielen Heranwachsenden während der Covid-Lockdowns an den beängstigenden Reizen virtueller Welten irre zu werden droht. Und auch für die jungen Terroristen in „Nocturama“ (2016), die mit Bomben und Brandstoff gegen „das System“ zu Felde ziehen, nur um im glitzernden Netz eines Luxuskaufhauses durch staatliche Killer liquidiert zu werden. Anhand von Schönbergs Leben und Werk stellt „Transfiguré“ so Themen auf die Bühne, die Bonello selbst umtreiben, als Menschen wie als Schöpfer. Die Produktion könnte den Untertitel der „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene“ tragen, entstanden zur Zeit des unaufhaltsamen Aufstiegs eines rechtsextremen Rattenfängerverbands: „Drohende Gefahr – Angst – Katastrophe“.


„Transfiguré“ ist Bonellos erste Bühnenarbeit – eine geplante Inszenierung von Verdis „Don Carlo“ an der Pariser Nationaloper war 2017 durch Saint Laurents Lebenspartner Pierre Bergé torpediert worden, wie Bonello dem Verfasser dieser Zeilen freimütig erzählt. Die Produktion trägt hier und da noch anfängerhafte Züge, zeugt zugleich aber von einer starken persönlichen Hinneigung. Mit sieben oder acht Jahren habe er das erste der Drei Klavierstücke op. 11 einstudiert, führt der Regisseur aus. „Mein liebstes ist heute das zweite, das auch in meinem nächsten Film zu hören ist [der im Februar an der Mostra vorgestellt wird]. In <La Bête> verkörpert Léa Seydoux eine Pianistin, die im Jahr 1910 das seinerzeit ultramoderne Stück übt“.


„Der Mond ist tückisch... weil er blutleer ist... malt er rotes Blut...“ – der Pianist David Kadouch verkörpert in „Transfiguré“ eine Art Alter Ego Schönbergs. (Bild: Mathias Benguigui – PASCOandCO)

Seinen Traum, Dirigent zu werden, hat der Sohn einer Mitarbeiterin der Oper von Nizza nicht verwirklicht. Stattdessen spielte er zunächst Keyboard in Funk-, Pop- und Rockbands. Als einer von wenigen Filmregisseuren, die selbst einen Teil ihrer Soundtracks komponieren (den Rest steuern Mozart, Puccini sowie Soul-, Beat-, Trap- und andere Musiker bei) hat der Bewunderer von Bernard Herrmann und von Trent Reznor letztes Jahr ein Album mit dreizehn Titeln veröffentlicht: „Sound of Bonello“. Allesamt elektronische Werke zwischen schwebendem Ambient und pulsierender Tanzmusik, doch durchzogen von Verweisen auf die Klangwelt der akustischen, ja gar klassischen Musik – sei’s formal (mit Anspielungen auf Purcells „Cold Song“ oder auf einen Passacaglia-Bass), sei’s in der Instrumentation (mit virtuellen Cembali, Drehorgeln, Mandolinen, ja – im laut Bonello „opiumhaltigen“ Titel „L’Apollonide“ – chinesischen Spießgeigen). Und höre da: auch ohne Bilder beschwören diese Klänge Farben und Formen herauf!

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