„Une vie pour rien“
- marczitzmann
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Widerständler, Kunsthändler, Historiker – die drei Leben des Daniel Cordier im Spiegel von Ausstellungen in Paris und Toulouse sowie der postum erschienenen Memoiren
Von Daniel Cordier (1920 bis 2020) ist es ein Gemeinplatz, zu sagen, er habe drei Leben gehabt. Die dreigeteilte Struktur findet man auch in den zu Jahresbeginn veröffentlichten postumen Memoiren des Franzosen und in drei Ausstellungen, die deren Publikation bis Mitte März begleitet haben (in der Pariser Galerie Gallimard) beziehungsweise noch bis Mitte Juli (im Musée de la Libération de Paris) respektive Ende August (in Les Abattoirs in Toulouse) begleiten.

Der Prolog führt den Jüngling als Saulus ein. Begüterte Großeltern, geschiedene Eltern, ein ödipales Verhältnis zum verleugneten Vater, zur gehasst-geliebten Mutter und zu deren vergöttertem neuen Gatten. Von Letzterem übernahm Daniel Bouyjou nicht nur den Nachnamen, sondern auch die Weltanschauung. Gleich Charles Cordier war der junge Daniel Monarchist und Antidemokrat, Fremden- und Judenhasser.
Und Nationalist. So begann sein erstes Leben, als am 17. Juni 1940 der frisch zum Regierungschef ernannte Sieger von Verdun, der greise Marschall Pétain, die Kapitulation vor den Hitlertruppen verkündete. Am Folgetag drang ein Oberst, den kaum jemand kannte, in einem Aufruf über den Radiosender BBC, den kaum jemand hörte, auf die Fortsetzung des Kampfes. Auch Daniel Cordier, im Hass auf die „boches“ großgezogen, die Erzfeinde jenseits des Rheins, hatte De Gaulles „Appell vom 18. Juni“ nicht vernommen. Doch schiffte er sich sogleich nach Nordafrika ein – und landete in London. So zählte er Anfang Juli zu den ersten Rekruten jener Kräfte, die die Briten „The Free French“ nannten.

Gemeinsam mit 450 weiteren blutjungen Mitgliedern der Forces françaises libres absolvierte Cordier eine Militärausbildung, verpflichtete sich Mitte 1941 aber aus Frustration, nicht zum Kampf geschickt zu werden, beim Geheimdienst. Er besuchte eine Sabotageschule (sic), lernte beschatten, heimlich funken, sympathetische Tinte verwenden, endlich auch Fallschirmspringen. Im Juli 1942 wurde Cordier über dem Herzen von Frankreich abgeworfen und bezog Quartier in Lyon. Sein neuer Chef dort war eine Figur, die heute den Märtyrer des Freiheitskampfs verkörpert: Jean Moulin. Der damals 43-Jährige war durch De Gaulle abgeordnet worden, um die verstreuten Résistance-Gruppen zu einen und unter die Autorität des Führers der France libre zu bringen.
Bald acht Monate nach seinem eigenen Abwurf hatte „Rex“ – so Moulins Codename – noch immer keinen Assistenten, um Treffen zu organisieren, Briefe zu schreiben und zu verteilen, Telegramme zu ver- und entschlüsseln. Flugs requirierte er Cordier: Der 22-Jährige wurde als Moulins Sekretär zum Zeugen von dessen Armringen mit auf Unabhängigkeit bedachten Résistance-Führern, vom Pragmatismus und politischen Gespür des bald innig bewunderten Chefs, aber auch von dessen Empathie, Offenheit und Kunstsinnigkeit. Unter Moulins Einfluss wie unter jenem anderer Kämpfer – unter ihnen der liberale Querdenker Raymond Aron – brach Cordier mit der Ideologie seiner Jugend. Im März 1943 bewirkte der Anblick von Judensternen in den Straßen von Paris „das Bewusstwerden der kriminellen Realität dessen, was die Worte, die Wahlsprüche, die Redewendungen bedeuteten, deren Konsequenzen ich bis dahin zu ermessen mich geweigert hatte.“ Der rechtsextreme Saulus wurde im Lauf des Kriegs zum linken Paulus.

Nach Moulins Verhaftung, seiner Folterung durch den „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, und seinem zunächst von Zweifeln und bis heute von Rätseln umgebenem Tod Mitte 1943 wusste Cordier die Bluthunde der Gestapo auf seinen Fersen. Bei einer Razzia fanden diese seine Fotografie. Nach London zurückbeordert, arbeitete er namentlich an einem Weißbuch, das das durch die innere Résistance kritisierte Handeln des Geheimdiensts verteidigen sollte. Als De Gaulle im Januar 1946 als Präsident der provisorischen Regierung zurücktrat, kündigte auch Cordier.
In dieser Zeit schälte sich sein zweites Leben aus dem ersten heraus. Die Prämissen dazu reichen ins Frühjahr 1944 zurück, als der junge Spion, einer Empfehlung seines vermissten Chefs folgend, den Prado besichtigte. Bosch und Dürer, Goya und Velázquez entzündeten eine latent bereits glimmende Kunstliebe – was in den Memoiren die glühende Charakterisierung von Gemälden El Grecos als „Momentaufnahmen von Funkengarben“ zum Ausdruck bringt. Vom Familienvermögen lebend, lernte Cordier mittelmäßig malen und erstklassig sammeln: Zu seinen ersten Käufen zählten Arbeiten von Braque und Soutine, aber auch lebender Künstler wie Nicolas de Staël und Henri Michaux.


1956 war Cordier ruiniert, aber Besitzer einer Kunstsammlung – und von Kunstverstand. Mit Hilfe namentlich Élie de Rothschilds eröffnete er eine kleine Galerie in Paris, die bald auch Filialen in Frankfurt und in New York besaß. Schon in seiner zweiten Ausstellung vereinte der Händler die Künstler Jean Dewasne, Jean Dubuffet und Roberto Matta. 1959 organisierte er die achte Exposition internationale du surréalisme – mit Duchamp, Miró und dem „Papst“ Breton als Kuratoren und mit Stücken von Bellmer, Dalí, Ernst, Giacometti, Magritte und Meret Oppenheim. Robert Rauschenberg, durch diese Schau erstmals bei Cordier vertreten, zählte gemeinsam mit Louise Nevelson zu den Amerikanern, die der Galerist in Europa einführte. Doch auch für Schöpfer der Alten Welt machte er sich stark: Die laufende Ausstellung im Musée de la Libération zeigt so, stellvertretend für viele andere, Gemälde von Dado, Jewgenij Gabritschewskij und Bernard Réquichot.

Cordiers große Kunstliebe war freilich Dubuffet – der einzige, dem er das Epitheton „Genie“ zugestand. Die Kapitel über diese „faszinierende und unausstehliche“ Figur sind die fesselndsten der Memoiren. Kultiviertheit, Konversationswitz und kreative Potenz waren das eine, Geldgier, Menschenverachtung und der Zwang, periodisch mit allem und mit allen zu brechen, um sich neu zu erfinden, das andere. 1964 häutete das Kunst-Chamäleon sich erneut – und stieß seinen Galeristen ab wie eine alte Epidermis. Dass Cordier daraufhin seine Galerie schloss, hatte indes auch mit der Rückständigkeit von Frankreichs Kunstwelt zu tun, die der ehemalige Händler in einem offenen Brief geißelte. Für moderne und zeitgenössische Schöpfer brach er trotzdem noch viele Lanzen. So als Mitgründer des Centre Pompidou und als Autor der umfangreichsten Schenkung an das darin beheimatete Musée national d’art moderne – das Konvolut wuchs in Schüben zwischen 1973 und 2017 auf geschätzt fast 700 Werke an! Diese werden heute als langfristige Leihgabe fast alle in Les Abattoirs aufbewahrt, dem Toulouser Museum für moderne und zeitgenössischen Kunst, wo Wechselausstellungen periodisch Aspekte des Fundus beleuchten. So zurzeit eine Schau über Cordiers Doppelliebe zum Buch und zur bildenden Kunst.

1977 begann Cordiers drittes Leben. In einer Fernsehdebatte wusste er einem ehemaligem Résistance-Chef, der Moulin vorwarf, ein „Kryptokommunist“ gewesen zu sein, nichts Artikuliertes entgegenzusetzen. Daraufhin vergrub er sich jahrelang in Archiven und veröffentlichte nach mehreren verworfenen Schreibversuchen ab 1989 eine dreibändige Biografie Moulins von der Kindheit bis Ende 1941, „L’Inconnu du Panthéon“. Dieser schickte er 1999 ein synthetisches Werk nach, das auch die Frankreich-Mission von „Rex“ ab 1942, sein Nachleben sowie Polemiken unter überlebenden Widerstandskämpfern beleuchtete: „La République des catacombes“.
Insgesamt ergab das weit über 4000 Seiten über den ehemaligen Chef, der bis dahin bloß ein führender Freiheitskämpfer unter anderen gewesen war. So fragten Besucher anfangs gern vor der heute allbekannten Foto mit schwarzem Schal und Schlapphut – ein Geschenk von Moulins Schwester, das auf Cordiers Schreibtisch thronte und jüngst auch in der Galerie Gallimard gezeigt wurde –, ob das der Vater des Ex-Galeristen sei.

Als Amateurhistoriker mit professionellem Anspruch stieß dieser Fragen an wie die Verlässlichkeit mündlicher Quellen im Vergleich zu schriftlichen – der Résistance-Spezialist Laurent Douzou hat das Thema in seiner Studie „Le moment Daniel Cordier. Comment écrire l'histoire de la Résistance?“ problematisiert.
Berühmt wurde Cordier indes mit Werken, die in einem wohlerzogen flüssigen Stil ausgewählte Abschnitte seines Lebens evozieren. In erster Linie „Alias Caracalla“ über die Kriegsjahre 1940 bis 1943, dann die nachgelassenen Folgebände „La Victoire en pleurant“ (1943 bis 1946) und „Amateur d’art“ (1946 bis 1977), endlich das Prequel „Les Feux de Saint-Elme“ über das Leben im Internat und die Entdeckung der Homosexualität daselbst (1928 bis 1936). Die jüngst erschienenen postumen Memoiren endlich spannen auf dreihundert Seiten einen Bogen vom ersten bis zum neunten Lebensjahrzehnt. Doch suchen sie in der Rückschau das „Rétro-chaos“ – so der Titel – keineswegs zu ordnen, sondern enden mit dem tristen Fazit: „une vie pour rien“ – ein Leben für nichts. Doch keines von Cordiers drei Leben war umsonst.



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