So mild und rein wie ein Spritzer aus dem Thermalwasserzerstäuber - Peter Brook dampft Shakespeares spätes Drama zu einer Brise im Wasserglas ein
Kaum zu glauben: Peter Brook feiert in weniger als drei Jahren seinen hundertsten Geburtstag, inszeniert aber noch immer mit unverkennbarer Handschrift Theater. Seine jüngste Produktion spielt seit Donnerstag am Théâtre des Bouffes du Nord, das der in London geborene Wahlpariser 1974 vor dem Abriss gerettet und seitdem zu einer der ersten Adressen in der europäischen Theaterlandschaft gemacht hat. „Tempest Project“ ist ein typisches Brooksches Spätwerk, halb altmeisterhafte Fingerübung, halb szenische Tuschezeichnung mit mehr Gewicht als manch ein Monumentalschinken in Öl. Shakespeares abendfüllender „Sturm“ wird darin mit Zutun der altvertrauten Übersetzer und Bearbeiter Marie-Hélène Estienne und Jean-Claude Carrière (der nach Probenbeginn verstorben ist) zu einer achtzigminütigen Brise im Wasserglas eingedampft, so mild und rein wie ein Spritzer aus dem Thermalwasserzerstäuber.
Ein leerer Raum, je zwei Bänke links und rechts, dazwischen wie Strandgut am Boden vier sternförmig skulptierte Holzscheite, Textilien, ein Buch sowie ein Stab. Diesen ergreift Prospero (Ery Nzaramba), als er den Raum betritt, um seiner Tochter Miranda (Paula Luna) eine umwälzende Enthüllung zu machen: Sie ist eine Prinzessin, er der entmachtete König von Mailand! Beide wurden in nebliger Vorzeit durch Helfer von Prosperos usurpatorischem Bruder in einem morschen Kahn aufs Meer hinausgestoßen, „dank göttlicher Vorsehung“ aber auf eine Insel gespült.
Zwölf Jahre nach dieser unrechtmäßigen Vertreibung, das Töchterchen ist mittlerweile zu einer heiratsfähigen Schönheit herangewachsen, fährt der Usurpator an dem Eiland vorbei. Mithilfe des Luftgeists Ariel lässt ihn der Zauberer Prospero mitsamt Gefolge Schiffbruch erleiden, freilich so sanft, dass nicht einmal ein Tropfen Meerwasser ihre Gewänder netzt. Hier lugt er schon zur Tür hinein, Marilú Marinis allerliebster Sylphe: Er schmunzelt, er tänzelt, seine Augen blitzen, seine Hände flattern. Prosperos Sklave ist er allenfalls im fernen Original, bei Brook/Estienne/Carrière bilden die beiden ein eingefahrenes Tandem, fast ein Paar, voller Komplizenschaft, Verbundenheit, ja keuscher Zuneigung.
Antipode des Luftgeists Ariel ist das Erdtrampel Caliban. Sylvain Levitte gibt den Hexensohn mit Schmollmund, scheelen Seitenblicken und animalischen Trotzgesten: Wie ein Truthahn plustert er den durchlöcherten Filz-Poncho auf und schlägt, aufs Äußerste gereizt, wie ein Esel aus. Das ist schauspielerisch charmant und frei von Chargieren, aber als Lesart eine Spur verniedlichend. Mit den Kumpanen Stephano und Trinculo, die die (echten) Zwillinge Fabio und Luca Maniglio ohne zu karikieren als bramarbasierend-hasenherzige Clowns-Klone verkörpern, findet der tumbe Teufelsbraten zwei Komplizen, die seinen geplanten Mordanschlag auf Prospero völlig vorhersehbar zum Scheitern bringen.
Bleibt der Sohn des mitgestrandeten Königs von Neapel: Ferdinand. Ebenfalls durch Levitte gespielt, verliebt er sich auf den ersten Blick in Miranda – und umgekehrt. Nach einer „Prüfung“ die sich im Stapeln der erwähnten Holzscheite erschöpft, darf er seine Dulzinea ehelichen. Prospero verzeiht allen Bösewichtern – Happy End.
Wer „The Tempest“ kennt, wird beim Lesen dieser Zeilen gestutzt haben. Wo bleibt der böse Bruder, den Brook konsequent hinter die Bühne verbannt (aber folgewidrig mehrmals erwähnen lässt)? Wo der „ehrliche alte Ratsherr“, Helfer des Usurpators, aber insgeheim Retter von Prospero und Miranda? Und warum fehlen der zwielichtige König von Neapel und sein Höllenhund von Bruder? Mit diesen Figuren verabschiedet sich auch die politische Dimension aus einem Stück, dessen zentrales Thema doch die Macht ist – „free“ und „freedom“ sind Kernworte des Textes.
Seit langen Jahren sucht Brook eine Art Reinessenz des Theaters zu destillieren. Dabei geht die Suche nach der pursten Form bei ihm oft übers Kürzen, Vereinfachen, Glätten und Nivellieren – gerade bei Klassikern wie „Die Zauberflöte“, „Hamlet“ oder eben „The Tempest“. Letzteres Werk nennt er im Programmzettel Shakespeares letztes – dabei hat die Wissenschaft die romantische Vorstellung von dem testamentarischen Stück, in dem der Autor durch Prosperos Mund zu seinem Publikum spräche, längst widerlegt. Dass der Regisseur, der das Werk seit 1957 viermal inszeniert hat, grundlegende Forschungsergebnisse zu ignorieren scheint, macht stutzig.
Günter Walch hat in einem Essay die mannigfaltigen Interpretationsansätze aufgelistet, denen das Stück im Lauf der Zeit unterzogen wurde. Neben der autobiografischen Lektüre sei „'The Tempest' außerdem gelesen worden als Hofsatire, in welcher Prospero nun nicht zu Shakespeare, sondern zu James I. wird; als politisches Stück mit rebellischem republikanischem Subtext; als Rachedrama; als Stück über die Regeneration der Macht; über das ewige Thema von Chaos und Ordnung; als pastorales Drama mit utopischer Evozierung des Goldenen Zeitalters; als romantische Liebesgeschichte; als philosophisches Drama; als metaphysisches Metamorphosegedicht; als Kolonialdrama und psychoanalytisches Fallstück Prosperos.“ Brook belässt es bei der Liebesgeschichte, garniert mit burlesken Einlagen. Bezeichnenderweise fehlt seinem „Tempest Project“ Shakespeares Eingangsszene: der Sturm.
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