Zum Vierhundertjahrjubiläum von Molières Geburt zeigt das Centre national du costume de scène im Auvergne-Städtchen Moulins hundertdreissig Bühnenkostüme vom 19. Jahrhundert bis zur Jetztzeit
1697 veröffentlichte der Vielschreiber Charles Perrault, heute bekannt als das französische Pendant zu den Brüdern Grimm, den ersten Band seiner hundertzwei Kurzbiografien illustrer Männer des 17. Jahrhunderts. Das Porträt des 1673 verstorbenen Komödienautors Molière, den Perrault persönlich gekannt hatte, enttäuscht: Es strotzt von Anekdoten und Gemeinplätzen. Einzig der Schlusssatz, so Frankreichs führender Molière-Spezialist Georges Forestier, rettet den Text: „Er hat sich auch bewundernswert auf die Kleider der Schauspieler verstanden“, schreibt der Märchen-Kompilator da über den Theaterschöpfer, so dass die Zeitgenossen weniger Schauspieler vor sich sahen „als die wahren Figuren, die diese verkörperten.“ Anscheinend war das „Verständnis“ für Bühnenkostüme seinerzeit so außergewöhnlich, dass es hervorgehoben zu werden verdiente.
Aus Anlass von Molières vierhundertstem Geburtstag zeigt das Centre national du costume de scène in dem Auvergne-Städtchen Moulins jetzt knapp hundertdreissig Kleiderkreationen vom 19. Jahrhundert bis zur Jetztzeit. Am Fuß der denkmalgeschützten Doppeltreppe, die ins Obergeschoss des 2006 umgenutzten Kasernenbaus aus dem 18. Jahrhundert führt, begrüßen einen Madame und Monsieur Jourdain – beziehungsweise die Kostüme der beiden Figuren aus „Der Bürger als Edelmann“, die Agostino Pace 1972 entworfen hat: das eine brav bürgerlich, das andere bemüht edel, aber beide theatralisch, weil auf den ersten Blick als Verkleidungen identifizierbar.
Dreizehn abgedunkelte, schwarz ausgekleidete Säle beleuchten – wenn man so sagen kann – zwölf Themen (für das Sujet „Liebende“ sind gleich zwei Räume vorgesehen). Es handelt sich um große Gesellschaftsthemen des 17. Jahrhunderts, die auch jene von Molières Stücken sind. Wir möchten sie in fünf Sektionen unterteilen. Am Anfang stehen zwei „moralische“ Kapitel. Das erste handelt von Lastern, auf welche die Titel oder Untertitel dreier Stücke direkt verweisen: „Der Geizige“, „Der Menschenfeind“, „Tartuffe oder Der Betrüger“. „Don Juan“ wäre der Liste hinzuzufügen, vereint der Titelheld doch Grausamkeit, Niedertracht, Zynismus, Heuchelei und Gottlosigkeit. Für seinen 1986 in Lissabon aus der Taufe gehobenen „D. João“ ließ Jean-Marie Villégier den Kostümbildner Patrice Cauchetier für jeden der fünf Akte ein Outfit schaffen, das eine Facette der Figur beleuchtet: den Frauenjäger im Reisegewand, den goldglänzenden Aristokraten, den philosophierenden Gotteslästerer in Studententracht, den Schlossherrn im Schlafrock, endlich den schwarzgeschniegelten Scheinheiligen. Das Kapitel „Religion und Libertinage“ befasst sich spezifisch mit den beiden Heuchlern Don Juan und Tartuffe. Die Tartüfferie des Letztgenannten versinnbildlichte Christian Lacroix 2017 mit einem fuchsienfarbenen Ensemble, dessen sinnlicher Seidentaft den Blick freigibt auf ein grobgestricktes Büßerhemd aus rauer, grauer Wolle.
Die zweite Sektion vereint vier – wenn man so sagen kann – Gesellschaftskategorien: „Zofen und Diener“, „Bürger und Lächerliche“, „Väter und Töchter“, endlich „Kranke und Ärzte“. Den stets zu Streichen aufgelegten Scapin steckte Agostino Pace 1973 in eine Cowboy-Kluft (mitsamt Revolver!) – eines der wenigen nicht historisierenden Kostüme der Ausstellung. Für den Vater Orgon und seine Tochter Marianne aus „Tartuffe“ entwarf Georges Braque 1950 zur geometrischen Abstraktion tendierende Pasticcios der Mode des 17. Jahrhunderts, die Kritiker seinerzeit trist fanden. Ungleich bunter die Mischung aus Morgenmantel, Pyjama und Spielhöschen mit Mohnblumenmuster, die Pascale Bordet 2008 für ein durch Michel Bouquet verkörpertes Schmollbaby entwarf: Mützchen, Lätzchen und Halbhandschuhe entlarven da den eingebildeten Kranken.
Die nächste Sektion beleuchtet die zwei Seiten der amourösen Medaille: „Liebende" auf der einen, „Eifersüchtige und Treulose“ auf der anderen Hand. Für Hyacinthe und Octave aus „Scapins Streichen“ ließ sich Erick Plaza-Cochet 2013 durch den Balenciaga der 1950er Jahre inspirieren und schneiderte aus schlichten Stoffen raffiniert geschnittene Gewänder. Das folgende Kapitel zeigt erstmals ein mythisches Kostüm des Treulosen par excellence, das Christian Bérard 1947 für den Regisseur Louis Jouvet entworfen hat. Dieser schlüpfte mit sechzig Jahren selbst in das mit schwarzen Perlen bestickte weiße Baumwollgewand, um Don Juan als einen ebenso ruhelosen wie beunruhigenden Suchenden zu verkörpern. Nach einer vierten, „gelehrten“ Sektion, die sich mit der Frauenerziehung zu Molières Zeit sowie mit durch die Antike inspirierten Stücken befasst, begibt sich die Schlusssektion auf die Metaebene. So vereint das Kapitel „Molière auf der Bühne“ Kostüme zu Stücken, die den Autor – oder eine Stellvertreterfigur – als Protagonisten auf die Bretter bringen: Werke aus der eigenen Feder (wie „Die Kritik der Schule der Frauen“) oder aus jener von Jean Anouilh oder Jean Cocteau.
Die Schau „Molière en costumes“ treibt die übliche „Informationsaufteilung“ zwischen einer Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog auf die Spitze. Die Schau gibt dem Affen Zuckerbrot, und nur das: keine originalen Druckwerke, zu jedem Exponat lediglich die Grundinformationen – im Wesentlichen bekommen Besucherinnen und Besucher ästhetisch arrangierte und ausgeleuchtete Kostüme zu sehen, dazu in fast jedem Kapitel via einen Bildschirm ein paar Fotos, Zeichnungen und Ausschnitte gefilmter Aufführungen. Der letzte Saal, der dem durch Molière miterfundenen Genre der Comédie-ballet gewidmet ist, vereint gar zum Finale furioso fünfundzwanzig Kostüme, die zu Musiken von Lully und Charpentier auf drehbaren Schneiderbüsten einen Gruppentanz aufführen. Fast schon eine szenische Darbietung, wenngleich ohne Interpreten aus Fleisch und Blut.
Der Katalog seinerseits bildet nur einen Bruchteil der Exponate ab, wartet dafür aber mit Beiträgen von Wissenschaftlern wie Georges Forestier und mit Gesprächen mit Kostümbildnern wie Christian Lacroix und Macha Makeïeff auf. Hochinteressantes lernt man da, etwa über Molières textilen Nachlass und was dieser über die „originale“ Typisierung der Figuren verrät. Oder über die Begeisterung des dreizehnjährigen Yves Saint Laurent für Christian Bérards Kostüme für „Die Schule der Frauen“, welche – über Umwege – 2019 zur Schenkung von zweiundvierzig Kostümen namentlich von Bérard und Braque an das Centre national du costume de scène führte.
Im Herbst wird die weltweit einzigartige Institution, deren 10 000 Kostüme zählende Sammlung sich hauptsächlich aus den Beständen der Nationalbibliothek, der Pariser Nationaloper sowie der Comédie-Française speist, um einen 2000 Quadratmeter großen Anbau erweitert. Dieser soll neben zusätzlichen Reserven auch einen Parcours zum Thema „Szenografie“ bieten – strukturiert in drei Akte.
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