Was, wenn Ihr Sohn sich für Céline Dion hält? Yasmina Rezas neues Stück „James Brown mettait des bigoudis“ stellt Fragen zum Anderssein in der Mehrheitsgesellschaft
Vom leisen Entgleisen eines Verstands. Pascaline und Lionel Hutner haben einen Sohn, Jacob. Mit fünf Jahren hört dieser erstmals Céline Dion im Radio: Liebe auf den ersten Ton. Jacob wird zum Fan, später zum Imitator, endlich zu einer Art innerem Doppelgänger. Eines Abends sitzt den Eltern beim Nachtmahl nicht mehr der Sohn gegenüber, sondern der Popstar. Dies kurz gefasst das Anliegen, mit dem Pascaline und Lionel am Anfang von Yasmina Rezas neuem Stück „James Brown mettait des bigoudis“ (ein typisch Rezascher Titel: „James Brown benutzte Lockenwickler“) an eine Psychiaterin herantreten.
Kenner des Werks der französischen Schriftstellerin denken hier an den Mosaikroman „Heureux les heureux“ („Glücklich die Glücklichen“, 2013). In dessen fünftem Monolog trägt dieselbe besorgte Mutter, Pascaline Hutner, dasselbe Problem vor – in genau denselben Worten! Flicht indes der vielstimmige Roman ein komplexes Netz oftmals gespannter Beziehungen zwischen nicht weniger als neunzehn Monolog-Sprechern, so ist die Personenkonfiguration des Kammerstücks von schlichter Symmetrie: auf der einen Seite die Eltern, auf der anderen der Sohn und ein weiterer Internierter; in der Mitte die Psychiaterin.
Und auch von der gutbürgerlichen Pariser Vorstadt, in welcher der Roman die Klinik situiert, ist hier nichts zu sehen. Zwei raumhohe verglaste Schiebewände unterteilen bei Bedarf den bis allenfalls auf ein paar Möbel meist leeren Bühnenraum; den gerundeten Hintergrund, den grob verpixelte Projektionen gelegentlich in einen Game-Boy-Park verwandeln, verstellen hin und wieder Bandfenster mit senkrechten Jalousien.
Als Regisseurin – hier am Pariser Colline-Theater – ihrer eigenen Stücke bevorzugt Reza schwerelos abstrakte, oft eine Spur traumähnliche Bühnenbilder. Als Autorin hingegen schreibt sie ihre Figuren in einen resolut realistischen Rahmen ein. Die scharfschützenhafte Treffsicherheit bei der Namenswahl bildet ein weitherum bewundertes Markenzeichen, doch auch die sozioprofessionelle Zugehörigkeit und der daraus erwachsende Habitus sind jeweils klar erkennbar.
Die Psychiaterin zum Beispiel trägt den familiär-generischen Namen „La Psy“. Christèle Tual verkörpert diesen Archetyp der sportlich-jovialen, aber auch theorieverliebt-versponnenen „Seelenklempnerin“ für Besserverdiener – Powerfrau und Wolkenschieberin in einem – mit einer aufreizenden Mischung aus Burschikosität und Affektiertheit. Sich in zugleich lässige und verrenkte Posen werfend, sticht sie den Eltern bei jedem Besuch ein Messer in den Leib (wenn auch nicht „buchstäblich“, wie Lionel klagt). Das eine Mal sind die beiden „trist“, ja „Miesmacher“, das andere Mal rufen sie ihr Kind mit einem männlichen Kosenamen, was in therapeutischer Hinsicht kontraproduktiv sei. Dass die Ärztin in erster, ja einziger Linie die Interessen ihrer „Patientin“ im Blick hat, mag dahingehen. Aber ihr einziger Versuch, etwas zu kurieren, zielt auf „Célines“ Hypochondrie ab – nicht auf Jacobs Wahn. Dieser wird als gegeben, ja „normal“ hingenommen.
Folgerichtig stellt die „Seelenklempnerin“ Jacobs Klinik-Freund als einen jungen Studenten vor, der ein Problem mit seiner schwarzen Identität habe: „Bei seiner Ankunft präsentierte er sich als ein Kind der Antillen, aber seitdem identifiziert er sich mit einer, sagen wir: globaleren schwarzen Diaspora – mit einem leichten afroamerikanischen Tropismus, der aber nicht gravierend ist.“ Die Hauptsache dabei bleibt unerwähnt: Philippe ist hellhäutig – kein Albino, sondern was man gemeinhin einen Weißen nennt.
Spätestens hier ist das Schlüsselwort des Stückes fällig: Identität. Beide Patienten identifizieren sich mit einer Person, die sie nach verifizierbaren Kriterien nicht sind: Jacob mit einem weiblichen Weltstar aus Quebec, Philippe mit einem quintessenziellen „Schwarzen“, der Rassismus wittert, wo er geht und steht. Das kleine Wunder: Die beiden haben einander gefunden. „Céline“ (ohne jede Schmiere, vielmehr mit leuchtender Ausgeglichenheit die Normalität des Anormalen vorlebend: Micha Lescot) weiß zu schätzen, dass der Student sie trotz ihres Ruhms wie einen gewöhnlichen Menschen behandelt. Philippe wiederum (zwischen kindischem Trotz und dünnhäutiger Haarspalterei: Alexandre Steiger) wird besänftigt durch den frankokanadischen Frohmut der „Sängerin“ und durch die Dämpfer, die diese immer wieder seinem Verfolgungswahn aufsetzt. Ein exotisches Bäumchen, das beide verbotenerweise in den Park pflanzen, versinnbildlicht – eine Spur vordergründig – die Identitäts- und auch Immigrationsproblematik, die dem Stück zugrunde liegt. Wird das krumme Gewächs in Frankreichs Erde geradewachsen? Und was, wenn es sich um eine invasive Spezies handelt? Jacob/Céline emblematisiert überdies das Thema der Geschlechtsidentität – heutzutage, wie bekannt, ein beliebter Brandbeschleuniger für Volksverhetzer.
Die Eltern (verstockt auf Wiederherstellung des Status quo ante pochend: André Marcon; aus Mutterliebe zu schmerzhaften Kompromissen bereit: Josiane Stoléru) geben einer gewissen Norm und Normalität Stimme. Jacob/Céline verkörpert demgegenüber die glücklich-entspannte Seite des Wahns, Philippe dessen latent paranoide, extremistische Aspekte. Geistige Gesundheit und Identität zu verbinden, ist gefährlich: Muss, wer in keine der durch die Mehrheitsgesellschaft gestanzten Schablonen passt, als verrückt weggesperrt werden?
Reza umschifft die Klippen, indem sie Themen anreißt, statt Thesen zu behaupten, Fragen stellt, statt Antworten zu diktieren, Musik, Humor und Hula-Hoop-Tanz der Bühnenpredigt vorzieht. Der Beifall am Premierenabend war unverdient lau. In seinen zwei letzten Szenen breitet das Stück die Flügel aus und hebt ab wie ein farbflammender Phönix aus grauflimmernder Asche. Glücklich, wer einen Vogel hat. Heureux les heureux.
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