Avignons Papstpalast widmet der Street-Art-Künstlerin Miss.Tic eine große postume Retrospektive
Am 22. Mai 2022 verstarb Miss.Tic, die mit Bildern und Worten, Zeichen und Farben, Sprachwitz und Gedankenblitz jonglierte wie eine schelmisch-schwerelose Artistin. Ein Teil des Werks der Street-Art-Künstlerin verschwindet peu à peu aus dem Stadtraum: Das Gesetz der Auslöschung ist dem Genre eingeschrieben; Fotos bewahren, wo nicht die physische Gegenwart, so zumindest die Erinnerung. Ein anderer Teil des Œuvres, geschaffen für den Markt, lebt fort in öffentlichen und privaten Sammlungen. Der Palais des Papes in Avignon widmet der in Frankreich, und insbesondere in ihrer Geburtsstadt Paris, populären Schöpferin die erste postume Retrospektive in gut 200 Exponaten.
Sagen wir es gleich: der Papstpalast ist nicht der geeignete Bau für eine museale Werkschau, zumal die vorliegende dem gewöhnlichen Besuchsparcours des Baudenkmals aus dem 14. Jahrhundert eingeschrieben ist. Es geht über Treppe und Turm, durch Kammern, Säle und Gärten: Kontinuität und Struktur der Schau, durchaus vorhanden, sind so schwer zu fassen. Aber was zunächst irritiert, erweist sich je länger, desto mehr als ein Trumpf: Der überraschungsreiche Rundgang evoziert einen Bummel im urbanen Raum ohne Karte, eine Promenade voller Windungen, Weggabelungen und Kehrtwenden in Sackgassen. So umweht die Exponate zumindest ideell noch ein Hauch der Stadtluft, für deren rauen Kuss sie einst geschaffen wurden.
Miss.Tics Werken eignet hoher Wiedererkennungswert. Über ihre gesamte Laufbahn hinweg, von 1985 bis 2022, beschränkte sich die monomanische Serientäterin auf ein Genre: das mittels Schablone und Sprühdose geschaffene Pochoir – die französische Street-Art-Technik, für welche sich im Deutschen unverdientermaßen der englische Begriff „Stencil“ durchgesetzt hat. Miss.Tics Pochoirs bestehen stets aus drei Elementen: einer Figur (selten sind es deren mehrere), einem epigrammatischen Text sowie dem Signet der Künstlerin. Letztere sind in einer selbstgeschaffenen Typograf(f)ie namens „A Miss“ gesetzt: Majuskeln, die aussehen, als wären sie schwungvoll mit dem Cuttermesser ausgeschnitten. Zwei Farben: Rot und Schwarz (rare Ausnahmen bestätigen die fast absolute Regel), zuzüglich jener des Hintergrunds. Bei den Figuren handelt es sich nach den Selbstporträts der Frühzeit um Bilder fremder Menschen, oftmals Models, die Magazinen, Tageszeitungen oder Werbekampagnen entlehnt sind. Der künstlerische Wert von Miss.Tics Arbeiten gründet nicht in ihrer formalen Erfindung – sie verwenden ja Objets trouvés, spezifischer: silhouettes découpées –, sondern in der zugespitzten Reibung zwischen Bild und Text. Im Idealfall zeitigt diese Friktion einen gleichsam synästhetischen Funkenschlag: Miss.Tics Wort(spiel)e sollen erklärtermaßen „Lärm in den Augen machen“.
Ein paar Beispiele. Zwischen 1988 und 2007 schuf die Künstlerin anlässlich aller Wahlkämpfe um Frankreichs höchstes Staatsamt Affichen für eine fiktive Kampagne namens „Miss.Tic Présidente“. 2002 nahmen diese die Form blauer und rosafarbener DIN A4-Blätter an, auf denen aufreizend entblößte Frauenfiguren mit nicht minder provokativen Sprüchen lockten. Etwa: „Seien wir Bettler“, „Elend für alle“ oder „Frankreich den Maliern“. Die erotischen Bilder entlarven nicht nur die Billigkeit realer Wahlslogans, sondern auch die flittchenhafte Verführungs“kunst“, derer sich diese allzu oft befleißen.
2013 parodierte die Serie „Les Uns et les Unes“ die Titelseiten von Mode- und Lifestylemagazinen. „Grazia“ riet da: „Ändern Sie Ihre amouröse Diät“, „Elle“ setzte auf „Liebe, Ruhm und Botox“, „GQ“ frohlockte: „Die Herzen hoch, die Slips runter“. Hintergründiger die Serie „Muses et Hommes“ von 2000, die in Ikonen der Malkunst von Raffael bis Gauguin den male gaze aufspürte. „Um zu lächeln, muss man viel geweint haben“, lautete das Textchen zur „Mona Lisa“; „Fürchten, was man wünscht; wünschen, was man fürchtet“ jenes zu Fragonards „Riegel“, einer Beischlafzimmerzene zwischen Verführung und Vergewaltigung.
Zu Recht merkt der Katalog an, dass die kritische Dimension von Miss.Tics Œuvre ambivalent sei. Die Künstlerin setzte in Werk wie Leben auf Selbstbestimmung – „Ich glaube an das Ewigweibliche“ und „Der Mann ist die Vergangenheit der Frau“ lauteten zwei ihrer (nicht bierernsten) Mottos. Aber die figurativen Stereotype, die sie (wieder)verwendete, laufen trotzdem Gefahr, die Verdinglichung des weiblichen Körpers zu perpetuieren. Der Klischeecharakter dieser drallen, entblößten Bodys sticht nicht stets sogleich ins Auge. Doch „was ins Auge sticht, macht blind“, konterte die Künstlerin den Vorwurf präventiv.
Hochinformativ das Kapitel der Schau, das Miss.Tics Schaffensprozess beleuchtet. Eine Rekonstitution des letzten Ateliers in der Rue Henri-Michaux im 13. Arrondissement bildet den Clou dieser Sektion; doch interessant ist vor allem zu erfahren (und zu sehen), dass und wie die Künstlerin neben den Mauern und Palisaden ihrer unentgeltlichen Straßen-Pochoirs für ihre kommerziellen Werke auch Seide, nietenbesetztes Blech, Plakat-„Palimpseste“, ganze Flugzeugtüren und sogar „Leinwände“ aus Dutzenden collagierter Buchseiten besprühte. Letztere für die Serie „Femmes de l’être“ von 2011, die Ausschnitte – buchstäblich – aus ikonischen Büchern von Simone de Beauvoir, Virginie Despentes, Anaïs Nin, Virginia Woolf und zehn anderen femmes de lettres je mit einem Porträt der betreffenden Autorin sowie einem maßgeschneiderten Wahlspruch bedeckt.
Spatzengesicht mit verstohlenem Lächeln, schwarze Stirnfransen, Brille, Kippe und Pumps: Miss.Tic war eine Urpariserin, sexy und biestig wie Gundel Gaukeley, Donald Ducks der schwarzen Magie mächtige Gegenspielerin (die auf Französisch „Miss Tick“ heißt). Das Schlusskapitel der Schau beleuchtet materialreich ihre Biografie. Kernaspekte: die Multikulturalität – die Nachkommin eines tunesischen Arbeiters und einer normannischen Bauerntochter hieß mit bürgerlichem Namen Radhia Aounallah –, das Boheme-Leben – Herzensnöte und Geldsorgen im Künstlermilieu evozieren Fotoserien von Nan Goldin –, die am Ende von Erfolg gekrönte Zähheit – weiter oben mit gutem Grund eine „Serientäterin“ geheißen, sah Miss.Tic nach rund fünfzig Polizeigewahrsamen und einem (teuer verlorenen) Prozess wegen Sachbeschädigung zwei ihrer Werke 2005 in die Sammlung des Londoner Victoria and Albert Museum eingehen. Eine „Hexe in einer entzauberten Welt“, lebte die sprayende Dichterin ihr Credo: „Poesie ist ein Extremsport“.
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