Jude, Franzose, Linker: Der Anwalt und Menschenrechtler Arié Alimi zieht mit Wort und Gesetz gegen serienmäßige Rechtsbrüche des Staats zu Felde
Frankreich hat ein schweres Problem mit Polizeigewalt. In seinem Buch „L’État hors-la-loi“ nimmt Arié Alimi drei Kategorien von Übergriffen unter die Lupe. Die erste nennt der Anwalt und Menschenrechtler „ethno-rassisch“. Opfer sind großmehrheitlich nichtweiße junge Männer aus sozial benachteiligten Vorstädten. Alimi hat als junger Verteidiger in den Revieren nordöstlicher Pariser Problem-Banlieues die Zeichen von Polizeigewalt zu erkennen gelernt: gerötete Handgelenke, schwarz-violette Augenhöhlen, gebrochene Arme, Taser-Verbrennungen. Er weiß, dass derlei Vorstädte Kriminalität hervorbringen – nicht naturgemäß, wie es in rechten Kreisen oft heißt, sondern aus sozioökonomischen Gründen. Aber er teilt nicht die Ansicht, dass außerordentliche Rechtlosigkeit mit außerordentlichen (wo nicht gar außerrechtlichen) Mitteln zu bekämpfen sei.
Mit Bezug auf den Soziologen Mathieu Rigouste, Autor einer Studie mit dem selbstsprechenden Titel „La Domination policière“, befindet Alimi, der Blick der Polizei auf die genannten Banlieue-Bewohner gründe in einer Logik der sozialen Segregation, die durch den Staat und durch Gebietskörperschaften organisiert werde. Die Kontinuität mit der Polizei der Zeit des Algerienkriegs und, noch davor, mit jener des Vichy-Regimes erkläre, dass als Fremder betrachtet werde, wer nicht aussehe wie ein „Europäer“. Gegen diesen Teil der Problemvorstadtbevölkerung wendeten Ordnungskräfte in einem namenlosen Guerillakrieg eine „entfesselte Gewalt“ an, die nichts mit den unterrichteten Techniken zu tun habe. Tränengas, Tonfa und Taser kämen routinemäßig zum Einsatz. Nach vollbrachter Tat nehme der Autor eines Übergriffs sein Opfer gern fest, lasse es, gestützt auf Falschaussagen von Kollegen, in Gewahrsam nehmen; 24 oder 48 Stunden später werde der Betroffene nach sofortiger Vorführung verurteilt und sogleich ins Gefängnis eingewiesen. Alimi hat diese „Methode“, in der Polizeigewalt sich mit „Justizgewalt“ paare, Dutzende von Malen anwenden sehen.
Eine zweite Kategorie nennt der Autor „Polizeigewalt im Straßenverkehr“. Cédric Chouviat ist Frankreichs George Floyd. Beide kamen 2020 bei einer Straßenkontrolle ums Leben, erstickt durch einen Würgegriff in Bauchlage. Der Amerikaner wiederholte elfmal „I can’t breathe“, der Franzose neunmal „J’étouffe“. Kameras hielten hüben wie drüben den minutenlangen Todeskampf fest. Alimi diagnostiziert in Chouviats Fall „Rachsucht“ seitens der betreffenden Pariser Polizisten: Der muslimische Moped-Kurier habe diese beschimpft und ihre Autorität infrage gestellt. Was Stimmen von rechts bei ihrer Verteidigung der mutmaßlichen Täter (ein Ermittlungsverfahren steht unmittelbar vor Abschluss) ungewollt bestätigten: Hätte sich Chouviat respektvoll den Uniformträgern unterworfen, hieß es da, wäre ihm nichts passiert. Doch seine (verbale) Aufmüpfigkeit habe ihn das Leben gekostet. Implizite Botschaft: Vor Polizisten besser kuschen – sonst habe man sich allfällige böse Folgen selbst zuzuschreiben.
Verfünffacht (!) habe sich seit 2017 die Zahl der Fälle, in denen Polizisten auf fahrende Fahrzeuge schießen. In jenem Jahr wurde ein x-tes Sicherheitsgesetz verabschiedet, in dem ein Artikel – durch Polizeigewerkschaften falsch verstanden und durch Polizeischulen falsch unterrichtet – den Ordnungshütern die Erlaubnis zu geben scheint, nach subjektivem Ermessen und präventiv (das heißt noch vor jeder konkreten Bedrohung) auf Fahrzeuge zu schießen. 2022 wurden so fünfzehn Personen verletzt und dreizehn getötet. Die Schützen verteidigen sich mit der Standardformel „Ich wähnte mich in Gefahr“; Gewerkschaften fordern gar eine „Notwehrvermutung“. Es obläge dann dem (toten) Opfer zu beweisen, dass es den Polizisten nichts Böses wollte. Ziel sei abermals, so Alimi, als „Fremde“ Abgestempelte zu dominieren – im vorliegenden Fall durch die Kontrolle ihrer Bewegungsautonomie.
Die dritte Kategorie von Polizeigewalt, die das Buch beleuchtet, richtet sich gegen politische Aktivisten und insbesondere gegen Demonstranten. Auch hier habe sich in den letzten zehn Jahren die Lage drastisch verschlechtert. Erstens seien Verbände der Gendarmerie und der nationalen Polizei reduziert worden, die auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung spezialisiert sind; an ihre Stelle träten nunmehr oft unerfahrene städtische Einheiten. Zweitens habe man von einer Strategie des ausweichenden Umfassens der Demonstrantenmassen zu einer Strategie der gewaltsamen Konfrontation gewechselt. Drittens kämen angeblich nichtletale Waffen zum Einsatz, die ungenau zielten, nicht sachgemäß verwendet würden und zu einem Gutteil als Kriegswaffen klassifiziert seien. Granaten, die teils auch TNT enthalten, vernichteten so regelmäßig Hör- und Sehorgane, Hände und Füße, leider auch Leben.
Den jeweiligen Schützen zu finden sei schwierig bis unmöglich, weil die Polizisten einander deckten, ihre Identifikationsnummern nicht trügen und die nach jedem Einsatz obligatorischen Formulare nicht ausfüllten – mit dem stillschweigenden Segen der Hierarchie, was Alimi von „systemischer“ Polizeigewalt sprechen lässt. Der Staat nehme Verstümmelungen und Todesfälle bewusst in Kauf, um Demonstranten abzuschrecken. Diese Strategie des Terrors gegen „innere Feinde“ bilde die Abwehrreaktion einer illegitim gewordenen Macht, die sich auf zur Hälfte aus rechtsextremen Elementen zusammengesetzte Ordnungskräfte stütze, um am Ruder zu bleiben. Frankreich befinde sich auf dem Weg eines „Demokratieschwunds“ wie Ungarn oder – bis unlängst – Polen.
Wer ist dieser Ritter ohne Furcht und Tadel, der allein mit Wort und Gesetz in den Kampf zieht gegen einen „État hors-la-loi“, einen zum serienmäßigen Rechtsbrecher gewordenen Staat? Arié Alimi wurde 1976 in Sarcelles nordöstlich von Paris geboren: kein Ghetto, aber ein Schmelztiegel, dem im Lauf der Jahrzehnte – auch mangels Wirtschaftskraft – das Feuer zum Fusionieren heterogener Elemente ausgegangen ist. Gleich vielen dort ist Alimi – dem die Eltern aus Angst vor Antisemitismus den ersten Vornamen „Frédéric“ gaben – das Kind maghrebinischer Sephardim. Im Lauf der Jahrzehnte wandelte er sich vom orthodoxen Gläubigen zum „Juden ohne Geschmack noch Geruch“, der das jüdische Gesetz weder studiert noch praktiziert. Und vom Israel idealisierenden Zionisten zum Kritiker Scharons und Netanjahus sowie zum Anwalt einer Aussöhnung mit den Palästinensern (die, wie er zugibt, heute utopischer scheint denn je).
In „Juif, français, de gauche… dans le désordre“, einem jüngst erschienenen Essay über brandaktuelle Sujets vor autobiografischer Folie, reflektiert Alimi, wie zwei Daten sein Leben verändert haben. Am 20. Juli 2014 attackierte ein Mob in seiner Geburtsstadt am Rande einer propalästinensischen Demonstration fünf Geschäfte jüdischer Besitzer; zwei davon gingen in Flammen auf. Als bekannt wurde, dass der Anwalt einige der mutmaßlichen Vandalen verteidigte, „exkommunizierten“ ihn etliche Glaubensgenossen als „Verräter“ und „verlorenen Selbsthasser“. Die linke Zivilgesellschaft empfing ihn mit offenen Armen: Umweltschützer, Menschenrechtler, Antifaschisten. Doch auch mit einigen dieser neuen Bundesgenossen kam es zum Bruch, als sie nach dem 7. Oktober 2023 das Massaker der Hamas zum Akt des Widerstands stilisierten. Wo doch, hält Alimi dagegen, gerade im linken Lager dekoloniale Bewegungen eine Ethik des Widerstands formuliert hätten, die auf Gewaltlosigkeit basiere – oder zumindest Gewaltanwendung auf Infrastrukturen der Besatzungskräfte zu beschränken suche, unter strikter Vermeidung von Zivilopfern.
Was die unaufgeregte Streitschrift des frischgewählten Vizepräsidenten der französischen Menschenrechtsliga heraushebt, ist weniger die Originalität einzelner Positionen als ihr Zusammendenken, der Blick fürs Ganze, das Augenmaß. So verurteilt Alimi klar die Kolonisierung Westjordanlands und das Massaker in Gaza, verteidigt zugleich aber Israels Daseinsrecht und die Legitimität seiner Bürger, das Land zu bewohnen, auf dem 80 Prozent von ihnen das Licht erblickt haben. So bestätigt er die Existenz eines arabisch-muslimischen Antisemitismus‘, bezweifelt aber, dass dieser andere Formen des Judenhasses (namentlich von christlicher und rechtsextremer Seite) verdrängt habe. Und so warnt er davor, sich durch jede exklusive, „essentialisierende“ Zugehörigkeit – an ein Stück Land, ein Volk, ein ideologisches Lager – vereinnahmen zu lassen. Gerade sein eigenes, an Facetten und Widersprüchen reiches Profil als „jüdischer französischer Linker – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge“ (so der Titel seines Essays) siedle ihn in einem „toten Winkel des Dekolonialismus“ an, der das Aufkommen einer totalisierenden Weltsicht verunmögliche. „Ich gehöre weder einer Identität noch einer Kultur noch einer Religion: Diese gehören mir.“
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