top of page
marczitzmann

Opern-Archäologie, staubfrei

Eine Produktion in Rouen beschwört Bühnenbild, Kostüme und Personenführung der Ur-„Carmen“ herauf


Es ist ein interessantes Experiment, das jüngst an der Opéra de Rouen Normandie angestellt wurde. In Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane, dem in Venedig beheimateten Zentrum für französische Musik der Romantik, hat das Haus nach der Urfassung von Offenbachs „Pariser Leben“ 2021 jetzt die Ur-„Carmen“ heraufbeschworen. Wobei es zu präzisieren gilt, was mit „‘Ur‘-Carmen“ und was mit „heraufbeschwören“ gemeint ist. Zu hören und zu sehen war nicht die Version, die noch unter Georges Bizets Mitwirkung an der Pariser Opéra Comique einstudiert wurde – und nach deren dreiunddreißigster Aufführung der Komponist am 3. Juni 1875 einem Herzinfarkt erlag, auf den Tag genau drei Monate nach der Uraufführung. Gespielt wurde vielmehr die „Export-Fassung“, die in den Jahren nach der Pariser Premiere die Welt eroberte, von Wien und Brüssel bis nach New York, Melbourne und Santiago. Erst nach seinem internationalen Triumph kehrte der frühere finanzielle Flop 1883 nach Paris zurück – und hat seitdem, zum Kassenschlager geworden, nie mehr die Spielpläne der großen Opernbühnen der Stadt verlassen.


Wie ein Gemälde von Goya: Die tote Carmen in Don Josés Armen (Bild: Marion Kerno)

Besagte „Export-Fassung“, die bis heute nicht nur in Paris, sondern weltweit am häufigsten aufgeführt wird, unterscheidet sich markant von der zu Bizets Lebzeiten aus der Taufe gehobenen Version. Deren gesprochene Dialoge ersetzte Ernest Guiraud, ein Schüler und Freund des Komponisten, kurz nach dessen Tod durch gesungene Rezitative mit Orchesterbegleitung. Aus einer Mischform – dem Genre der „Opéra-comique“, benannt nach dem Pariser Stammhaus (aber zwecks Unterscheidung von diesem heute mit Bindestrich geschrieben) – wurde so eine vollgültige Oper. Dankenswerterweise lenken Guirauds Rezitative nicht ab von Bizets funkenstiebend elektrisierender, weißglühend intensiver Musik. Aber Kenner stoßen sich an ihrer formelhaften Faktur und einfallsarmen Orchestrierung – ein Gipfel, war Guiraud doch der Autor eines vielhundertseitigen „Traité pratique d’instrumentation“!


So wurde der Ruf nach einer Wiederherstellung der Ur-„Carmen“ laut, seit Fritz Oeser 1964 eine kritisch-praktische Ausgabe vorgelegt hat. Diese schoss im Restituieren des Ur-Materials indes weit übers Ziel hinaus, machte sie doch auch Striche und Änderungen aus Bizets eigener Hand rückgängig! Seitdem haben Robert Didion (im Jahr 2000) und Richard Langham Smith (2013) neue kritische Ausgaben erarbeitet. Im März 2024 wird René Jacobs in konzertanten Aufführungen eine weitere, durch Paul Prévost erarbeitete Edition vorstellen.


Dramatisches Getue? Nein: Opern-Archäologie: Im neunzehnten Jahrhundert erstarrten Sängerdarsteller an bestimmten Stellen zu solchen Tableaux, während der Vorhang rasch fiel und sich unter Applaus sogleich wieder hob. Oft wurden diese lebenden Gemälde durch Stiche o. ä. verewigt. Hier die Interpreten des Quintetts im zweiten Akt (mit dem stummen Wirt zuunterst). (Bild: Julien Benhamou)

Die Wahl der „Export-Fassung“ begründet Alexandre Dratwicki, der künstlerische Leiter des Palazzetto Bru Zane, pragmatisch mit dem Wunsch, die Produktion an möglichst viele Opernhäuser zu verkaufen – womöglich bis nach Asien. In fernen Ländern mögen Sängersolisten weniger vertraut sein mit der französischen Sprache als jene in Rouen. Besser gut gesungene Rezitative als schlecht gesprochene Dialoge: Das Argument rechtfertigt seit bald hundertfünfzig Jahren die Vorliebe für Guirauds „Export-Fassung“ bei Sängern, die statt Französisch Volapük radebrechen und statt zu schauspielern lieber markerschütternde Spitzentöne produzieren. Nichtfrankophone Interpreten diese Theatertexte herunterstottern zu hören, ist wahrlich kein Vergnügen – doch die Lösung des Problems wäre nicht der Rückgriff auf Guirauds mediokre Rezitative, sondern ein besseres Sprachtraining.


So oder so: Versuche, die – beziehungsweise eine – Ur-„Carmen“ zum Erklingen zu bringen, hat es bereits gegeben. Besonders aufregend war John Eliot Gardiners Aufführung der kritischen Ausgabe von Richard Langham Smith mit seinem auf Originalinstrumenten spielenden Orchestre Révolutionnaire et Romantique an der Opéra comique 2009 (ein Filmmitschnitt verewigt die musikalische Maßstäbe setzende Produktion). Das Experiment in Rouen hat ein anderes Ziel: Es sucht die Bühnenbilder und Kostüme, ja sogar die Personenführung von einst heraufzubeschwören. Dokumentationsmaterial dafür gibt es zuhauf: Stiche, Aquarelle, technische Zeichnungen und sogar Illustrationen aus dem seinerzeit publizierten Klavierauszug; dazu Regiebücher und Skizzen des Inspizienten, die die Eintritte, Ortswechsel und Abgänge der Sängerdarsteller sowie die Platzierung des Chors verzeichnen.


Sur la place / Chacun passe. Carmens Flucht am Ende des ersten Akts. Aus historischen Dokumenten geht mehr oder weniger präzise hervor, wo sich Solisten und Choristen jeweils befanden. (Bild: Marion Kerno)

So wurde unter der Aufsicht von Antoine Fontaine für jeden der vier Akte ein monumentales Bühnenbild aus bemalten Riesenleinwänden und Holzelementen angefertigt (in Handarbeit, hauptsächlich!), derweil Hervé Gary die Beleuchtung dem seinerzeitigen, mehr dunkel-diffusen Ambiente angepasst und Christian Lacroix an die hundertfünfzig Kostüme mit kühnen Farbkombinationen und je individueller Endfertigung geschneidert hat. Das Ganze versetzt den Zuschauer deliziös vergangenheitsselig in eine Bilderwelt zwischen Goya-Gemälde („Carmen“ spielt um 1820 in Sevilla) und mittelständischer Postkarte (die Opéra comique fungierte im neunzehnten Jahrhundert – auch – als Heiratsvermittlungsanstalt für die nicht ganz gehobene Gesellschaft).


Voici la quadrille! Das Bühnenbild des Schlussakts mit Blick zur Arena von Sevilla hin (Bild: Marion Kerno)

Immer wieder überrascht einen dabei der Gedanke, dieser Versuch einer visuellen Opern-Archäologie sei mitnichten staubig. Was maßgeblich der Inszenierung zu verdanken ist: Den überlieferten „Lokalisierungen“ der Sängerdarsteller auf der Bühne fügt Romain Gilbert Gesten, Blicke und Interaktionen hinzu – die meisten davon aus dem Fundus einer ehrlichen und ehrbaren Tradition, etliche aber durchaus originell und zugleich musikalisch motiviert. So etwa das Messer, das José in der Schlussszene erst an die eigene Gurgel setzt – eine halb verzweifelte, halb erpresserische Geste –, bevor er es gegen Carmen wendet, als hinter der Bühne Jubelgesang auf deren neuen Geliebten ertönt.


Das Solistenensemble, durchweg mit exzellenter Diktion und schauspielerischem Talent gesegnet, wird durch Deepa Johnny in der Titelrolle angeführt. Lässig, unaffektiert und technisch souverän, sucht die kanadische Mezzosopranistin die Rolle nicht neu zu erfinden, sondern lässt sie gleichsam für sich selbst sprechen. Ein Ansatz, der emblematisch ist für die Produktion als Ganzes. Unter dem Strich bietet der Abend mehr als die Summe seine Teile: Der Funke springt von Bühne und Graben auf den Saal über, das Publikum fiebert mit – wie wohl schon vor hundertfünfzig Jahren manch ein Liebhaber neuer Musik, sobald irgendwo zwischen Wien, Melbourne und Santiago der erste, elektrisierende A-Dur-Akkord des „Carmen“-Vorspiels erklang…



2025 steht das Hundertfünfzigjahr-Jubiläum der Uraufführung von „Carmen“ an. Aus diesem Anlass wird die hier besprochene Inszenierung dann an der koproduzierenden Oper von Versailles nachgespielt. Und hoffentlich noch an vielen weiteren Bühnen...
22 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page