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marczitzmann

Nicht einmal der Schweif eines falben Huftiers

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Peter Sellars macht aus einem feurigen Stoff fade Bühnen-Asche - "Roman de Fauvel" im Pariser Théâtre du Châtelet

Wohin driftet Peter Sellars? 1993 präsentierte der Regisseur am Edinburgh International Festival eine Adaptierung von Aischylos‘ Tragödie „Die Perser“. Sie stieß auf starke Resonanz, wenngleich aus schlechten Gründen. Vor dem Hintergrund des Ersten Golfkriegs verwandelte der US-Amerikaner die von Vernichtung bedrohten, am Ende aber siegreichen Griechen in Landsleute, die militärisch übermächtigen, zuletzt jedoch unterlegenen Perser in Iraker. Das Ganze war bunt, plakativ und von jenem primitiven Antiamerikanismus erfüllt, wie ihn gerade privilegierte US-Bürger gern pflegen. Doch dass die Produktion trotz Heerscharen von Berserkern, die seitdem auf den Bühnen landauf, landab gewütet haben, noch immer in der Erinnerung nachbebt, spricht zumindest für ihre Energie.


Seither hat der einstige Regie-Wolf Kreide gefressen, vor allem jedoch Hektoliter von Chai-Tee mit Hafermilch getrunken. In den letzten Jahren ist er – vor allem auf der Opernbühne – als gutmenschlicher Autor softreligiöser Abziehbilder-Inszenierungen in Erscheinung getreten. „Roman de Fauvel“, vergangenen Freitag am Pariser Théâtre du Châtelet aus der Taufe gehoben, vereint jetzt beide Facetten von Sellars‘ Regie-Ansatz: das Zähnefletschend-Denunziatorische und das Mildlächelnd-Moralisierende.


Bild, Text, Ton und sieben Sängerdarstellerinnen - die Zutaten für Theater sind da. (Bild: ©Thomas Amouroux - Théâtre du Châtelet)

Der Ausgangsstoff ist faszinierend: der mittelalterliche „Roman de Fauvel“. Wohl 1310 begonnen und 1314 vollendet, ist diese Zeitsatire in Allegorieform des Dichters Gervais du Bus, einem Notar der Kanzlei Philipps IV. des Schönen, in dreizehn Manuskripten überliefert. Das bekannteste von ihnen, ein luxuriöser Kodex in der Französischen Nationalbibliothek, schiebt zwischen die weit über dreitausend Achtsilber hundertneunundsechzig Gesangsstücke ein.


Titel- und Antiheld des Romans ist das Huftier (Esel oder Pferd) Fauvel, dessen Namen die Anfangsbuchstaben von sechs Lastern bilden. Dank Dame Fortuna bringt es die falbe Kreatur vom Stall zum Palast, wo König und Papst sie umschmeicheln. Fauvel hält um Fortunas Hand an, doch diese vermählt ihm ihre Zofe, Vaine Gloire (Eitler Ruhm). Die Nachkommen der beiden bringen ganz Frankreich unter ihr gottloses Joch, am Ende freilich zeichnet sich die Wiederherstellung der Weltordnung durch himmlische Mächte ab. So klingt die apokalyptische, im Tonfall oft derbe Satire auf die Verworfenheit weltlicher wie geistlicher Machthaber mit einer hoffnungsfrohen Note aus.


(Bild: ©Thomas Amouroux - Théâtre du Châtelet)

Aus diesem reizvollen Material macht Sellars – fast nichts. Die visuelle Welt des Romans evakuiert er völlig. Im erwähnten „Manuscrit français 146“ der Nationalbibliothek finden sich detailreiche Beschreibungen des Palasts, den Philippe le Bel auf der Pariser Île de la Cité hatte erbauen lassen. Dazu siebenundsiebzig Miniaturen mit Figuren in allen erdenklichen Kostümen und in den diversesten Posturen (das gescannte Manuskript kann unter fauvel.archivengine.com bewundert werden). Nicht, dass der Regisseur dieses Bilduniversum eins zu eins hätte übernehmen sollen. Aber ein heutiges Äquivalent dafür zu erfinden wäre schon seine Aufgabe gewesen.


Stattdessen zeigt der Wahl-Angeleno, was er zuhause vor der Nase hat: Videos von Waldbränden in Kalifornien, fast die volle hundertminütige Spielzeit hinweg auf eine den gesamten Bühnenhintergrund abdeckende Riesenleinwand projiziert. In Rauchwolken erstickende Baumwipfel, lodernde Lichtungen, brennende Büsche, verkohlte Stämme, von nah und fern, mit fixer oder bewegter Kamera – die (bildtechnisch eher flau und verwackelt umgesetzte) Metapher auf den Zustand der Welt zu Beginn des vierzehnten wie des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist so simpel, dass sie keiner Erklärung bedarf.


(Bild: ©Thomas Amouroux - Théâtre du Châtelet)

So wenig man in diesem „Fauvel“ auch nur den Huf eines schlitz- und langohrigen Fabeltiers sieht, so wenig hört man seine würzige, fremdartige Sprache. Das altfranzösische Original hat Sellars durch die Dichterin und anglikanische Pastorin Alice Goodman zu englischsprachigen Texten eindampfen lassen, deren französische Übersetzung Pauline Cheviller (souverän) aus dem Off vorträgt. Fauvel wird darin bloß am Rande erwähnt, stattdessen geht es um die Vertreter der Fortune 500-Liste, um den Unabomber, die Obamas und die Amischen, um Hautcremes und den Sturm aufs Kapitol. Kurz: Das Ganze ist entschieden anachronistisch und noch dezidierter amerikanisch. Auf Französisch übertragen funktioniert Goodmans Prosa nur sehr bedingt.


Bleiben die zwölf zwischen diesen Texten ertönenden Gesangsstücke. Mit sieben Sängerinnen des durch seine Hildegard-von-Bingen-Gesamteinspielung bekannt gewordenen Ensembles Sequentia finden sie kompetente Interpretinnen. Dieselbe Gesangsgruppe hatte freilich 1991 mit einem Philippe de Vitry gewidmeten Album bewiesen, dass man dieses Repertoire noch ungleich farbiger und abwechslungsreicher zum Klingen bringen kann (Forscher vermuten, dass mehrere Kompositionen des „Manuscrit français 146“ aus Vitrys Feder stammen).


In besagter Einspielung kamen – wie vier Jahre später in jener von achtunddreißig Stücken aus dem „Fauvel“-Kodex unter der Leitung von Joël Cohen – auch Männerstimmen und mittelalterliche Instrumente zum Einsatz. Nicht so im Châtelet, was eine gewisse Eintönigkeit erzeugt. Zumal nach einer ersten Mottete eine volle Stunde vergeht, bevor nach lauter einstimmigen Gesängen wieder ein polyphones Stück erklingt. So kunstvoll schlicht all die monodischen Balladen und Lais für sich auch sind, in nicht enden wollender Aneinanderreihung lassen sie einem die Zeit lang werden.


(Bild: ©Thomas Amouroux - Théâtre du Châtelet)

Sellars fällt über weite Strecken auch nichts Besseres ein, als die Sängerinnen den Text gestisch verdoppeln zu machen: durch Handzeichen und Ringelreihen, Andachtsposen und Grablegungspantomimen. Das Ganze schmeckt nach einem Mix aus Hostie, Wokeness und kalifornischer Spiritualität – es fehlt an Umami.

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