Das Pariser Crazy Horse ist zur gemeinen Stripteasebude, was Chopins Mazurken zu Volkstänzen sind. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich das Repertoire verfeinert und das Publikum verjüngt.
Archivstücke – Texte, die nicht mehr brandaktuell sind, aber hoffentlich noch immer lesenswert
Diesen Artikel habe ich im Dezember 2021 verfasst. Er passt perfekt zum Jahresende - Champagne!
Das Crazy Horse in Paris erhebt den Anspruch, die „beste“ Nacktshow der Welt zu bieten. Doch was meint der Superlativ konkret? Das Licht im Saal erlischt, der Vorhang geht auf, Marschmusik ertönt. Nacheinander betreten neun Mädchen die nicht einmal zwanzig Quadratmeter kleine Bühne. Auf der nackten Haut tragen sie, was man die erotisierte Essenz einer Militäruniform nennen möchte: Stiefel, Epauletten und Ärmelaufschläge, aber auch einen hoch platzierten Gürtel mit Strapsen sowie mit Kunstrosshaar-Schweifen vorn und hinten. Vor allem jedoch eine britische Bärenfellmütze („bearskin“), die der Nummer den wortspielerischen Namen gibt. „God save our bareskin“ eröffnet seit 1989 jede Show des „Crazy“, wie die Institution in Paris familiär genannt wird. Es folgen achtzehn Nummern mit Stangen- und Reifentänzerinnen, mit good girls und femmes fatales, exotischen Tempelmädchen und Finanzhaiinnen auf Schlingerkurs. Nichts Schmierig-Schlüpfriges hier, sondern eine artistische Mischung aus Tanz, Musik und illusionistischen Bühneneffekten. Im Bein-Striptease „Voodoo“ etwa bestreichen anonyme Hände im Halbdunkel die untere Körperhälfte einer Tänzerin mit fluoreszierenden Farben – bis von ihrem Bauch eine halb grimmige, halb grinsende afrikanische Maske in den Saal starrt!
Besagter Saal wurde während der achtzehn Monate langen pandemiebedingten Schließung seit März 2020 von Grund auf renoviert. Im Vergleich zu den Mastodonten Lido und Moulin rouge zeichnet sich das Crazy seit je durch sein intimes Ambiente aus. Es zählt lediglich 220 Sitzplätze auf 280 Quadratmetern. Neue Alkoven und eine gerundete Salon-Bar verstärken den Kabarett-Charakter. Die Farbpalette reicht von Rosa bis zu Orange, ein warmes Rot dominiert. Die samtenen Doppelsessel sind Salvador Dalís berühmtem Bocca-Sofa nachempfunden; das Motiv der fülligen Lippen ziert auch den neuen Teppichboden – und gibt sogar in der Männertoilette den Urinalen ihre fleischige Form!
Ein mehr ironischer als erotischer Augenwink findet sich auch in der Treppe, die vom unterirdischen Saal zurück zum ebenerdigen Empfangsschalter führt. An der linken Wand prangen da in drei Rundbögen Dutzende von königsblauen Brüsten – ein Verweis auf die Monumentalskulptur, die der Bildhauer César 1966 mithilfe des Busen-Abgusses eines Crazy Girls schuf. Oben erwartet einen die raumhohe Fotografie eines zielscheibenförmigen „Rotoreliefs“, das der Konzeptkünstler Marcel Duchamp 1967 auf eine nackte Tänzerin projizierte. Und selbst für die WCs hat der mit der Neugestaltung betraute Innenarchitekt Benoît Dupuis bekannte Fotos des Crazy in Tapeten verwandelt. Darunter Arbeiten des Österreichers Emil Perauer, der 1967 einen fesselnd experimentellen, mit Fingerzeigen auf die Kunstgeschichte gespickten Fotoband veröffentlicht hat: „Crazy Horse Saloon“.
So lautete der ursprüngliche Name des Hauses, erzählt Andrée Deissenberg, die Direktorin für Kreation und Marken, im restaurierten Büro des Gründers und Übervaters. Das Boudoir mit Art-Déco-Patina wirkt wie ein Museums-Mausoleum – Alain Bernardin schoss sich hier 1994 eine Kugel in den Kopf. Lackrotes Mobiliar unter einer Buntglas-Deckenleuchte, dickleibige Presseordner, Laufmeter von Vinylplatten und Schrank-Schreine voller Memorabilia – das Räumchen atmet Kunstsinn und verfeinerte Lebensart. Vom „Crazy Horse Saloon“, den Bernardin 1951 an der heutigen Adresse eröffnete, der hochherrschaftlichen Avenue George-V neben der Luxusmodemeile Avenue Montaigne, liess sich das nur bedingt sagen. Zunächst bot das nach einem Sioux-Häuptling benannte Etablissement, das einen Western-Saloon evozierte, eine bunte Mischung aus Chanson, Café-Théâtre und Beinahe-Striptease. Ja, sogar einen Zwerg fand man da, der sich klein und kleiner machen konnte, und einen Laut-Imitator, der dem Publikum galoppierende Pferde ins Ohr zauberte…
Doch im Lauf der Jahre verengte Bernardin den Fokus immer exklusiver auf Nacktnummern. Deren Codes verfeinerte er mit monomanem Perfektionismus – von der Figur und den Dimensionen der Tänzerinnen (um 1,70 Meter groß, mit kleinem Busen und drallem Hintern, rotem Lippenstift und Pagenschnitt-Perücken) bis zum Markenzeichen des Hauses: bunten Lichtprojektionen auf bare Haut. Vor Provokationen scheute er dabei nicht zurück. Auf die Tänzerin Bertha von Paraboum, die sich 1964 zu deutschen Militärgesängen vor Hitler-Fotos mit einem Hakenkreuz-Stringtanga produzierte, folgte so 1985 Frenchy Lunatic als lüsterne Nonne – wegen Protesten wurde die Nummer bald abgesetzt. Die anspielungsreichen Künstlernamen vergibt übrigens kurz nach der Anstellung die Direktion – eine einzige Ablehnung ist möglich. In der heute achtunddreißigköpfigen Truppe finden sich so Pseudonyme wie „Bamby Splish-Splash“ und „Lolita Kiss-Curl“ neben „Dekka Dance“ und „Trauma Tease“.
Nach Bernardins Freitod übernahmen seine drei Kinder das Haus. Sie eröffneten in Las Vegas und Singapur mehr oder weniger kurzlebige Sukkursalen, vergaßen darob aber, die Inhalte zu erneuern. „Wir wären mit unserem alternden Publikum dahingeschieden“, resümiert Andrée Deissenberg die Lage bei ihrer Ankunft im Gefolge der Übernahme des Hauses durch belgische Aktionäre 2006. Mithilfe substanzieller Investitionen in die Erneuerung des Repertoires gelang es der künstlerischen Leiterin, das Ruder herumzureißen. Das Publikum des Crazy ist heute nicht nur jünger und urbaner, sondern auch wesentlich weiblicher als seinerzeit.
Zunächst lud Deissenberg Gaststars ein, mit je vier maßgeschneiderten Nummern die Show aufzufrischen. Auf Dita Von Teese als einer Hauptexponentin des New Burlesque aus Übersee folgten so die Schauspielerinnen Arielle Dombasle und Clotilde Courau sowie das Mannequin Noémie Lenoir. Mit Einladungen an die vollbärtige Diva Conchita Wurst 2014 und an die teilamputierte Sängerin und Songschreiberin Viktoria Modesta 2019 setzte Deissenberg sogar gesellschaftliche Zeichen. „Die Facetten der Feminität sind vielfältig“, führt die Franko-Amerikanerin aus. „Was Wurst angeht, hört man heute von vielen Jugendlichen – auch in meinem Bekanntenkreis –, sie seien weder hetero- noch homo- noch bi-, sondern pansexuell. Modesta betreffend war mir namentlich nach dem Besuch eines Einkaufszentrums in Nashville, wo mehrere Amputierte in T-Shirts oder Shorts flanierten, aufgefallen, dass Prothesen heute immer weniger Scham und immer mehr Stolz hervorrufen.“
Vor allem jedoch lud Deissenberg drei Gastschöpfer(-Tandems) aus der Mode- und Tanzwelt ein, je eine ganze Show zu kreieren: 2009 Philippe Decouflé und Ali Mahdavi, 2012 Christian Louboutin, 2016 Chantal Thomass. Die Show „Désirs“ des Choreographen (und Gestalters der Eröffnungs- und Schlussfeier der 16. Olympischen Winterfestspiele) Decouflé und des Modefotografen Mahdavi machte das Crazy endgültig wieder hip. Eine Nummer wie „Upside Down“, bei der über einer dunklen Spiegelfläche Arme, Beine, Hintern, Büsten und Köpfe auftauchen und wieder verschwinden, ohne dass man wüsste, wie sie zusammengehören, führt schwindelerregend vor Augen, dass es hier um anderes geht als um banale Erotik. Nämlich: um Bühnenzauber, Illusionismus, neckische Verwirrspiele. Kein Geringerer als Frederick Wiseman hat die Entstehung dieser Show verewigt. Nach dem traditionsreichen Pariser Opernballett und der altehrwürdigen Comédie-Française entflammte sich der amerikanische Großmeister des Dokumentarfilms für das nicht minder disziplinierte Nackt-Kabarett – in seinem achten Lebensjahrzehnt! Alter schützt vor Crazyness nicht.
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