Zum Tod von Jean-Jacques Sempé, dem Schöpfer universell geliebter Bildgeschichten
Der Mittelweg ist meist billig und blechern. Doch in seltenen Fällen verdient er das Beiwort «golden». Als Erzähler von Geschichten in Bildern und Buchstaben hat Jean-Jacques Sempé zeitlebens die Extreme gemieden. In seinem Werk findet man weder himmelschreiende Gewalt noch abgrundtiefe Bosheit, selbst Sex taucht allenfalls in augenzwinkernd-burlesker Form auf. Sempés bekannteste Schöpfung ist in dieser Hinsicht emblematisch: «Der kleine Nick» spielt im Frankreich de Gaulles, aber einem putzig pittoreskgezeichneten Gallien, das der Blick des dreikäsehohen Erzählers in scheinbar unverrückbare Raster mit Koordinaten wie «Kinder» und «Erwachsene» oder «Schulstunde» und «Spielzeit» bannt. Eine heile, durch und durch «normale» Welt, in der nie der kleinste Zweifel daran aufkommt, was gut und böse ist, was erlaubt und was verboten.
Der Witz dieser 222 Geschichten, für welche René Goscinny zwischen 1955 und 1964 Texte von oftmals Mozartscher Schwerelosigkeit geschaffen hat und Sempé kongeniale Zeichnungen, ist, dass sie die Elastizität des festgefügten Rahmens zu komischen Zwecken ausreizen. Da geraten das Weltbild der «Großen» und die Anschauung, die die «Kleinen» vom eigenen Mikrokosmos haben, auf Kollisionskurs. Knirschen Fremdkörper – ein schottischer Sprachschüler, ein entlaufener Hund – wie Sand im Getriebe der Erzählmaschine. Machen unüberwindbare Hürden – das Verfassen eines Dankbriefs, das Erlernen der Verkehrsregeln – die narrative Lokomotive entgleisen. Je standardisierter eine Kunstwelt, je luftdichter von der Realität abgeschlossen, desto kleiner das Störelement, dessen Funkenschlag das unter der Glasglocke akkumulierte Lachgas zum Explodieren bringt.
«Le Petit Nicolas» bildet den Sockel von Sempés Weltruhm, ist im Kontext des Gesamtwerks aber untypisch. Denn neben Goscinny hat der Geschichtenzeichner nur noch mit zwei anderen illustren Autoren zusammengearbeitet: den Romanciers Patrick Modiano (1988 für «Catherine Certitude») und Patrick Süskind (1991 für «L’Histoire de Monsieur Sommer»). Der Kern seines Oeuvres, rund dreißig Alben, besteht aus Zeichnungen mit eigenen Texten. Die Zuordnung dieser Bände zu einem Genre ist nicht ganz einfach: Sempé betonte stets, er möge keine Comics und mache auch keine. Doch bis auf gerahmte Panels lassen sich auch bei ihm – wenngleich nicht durchweg – die wichtigsten Elemente der «bande dessinée» finden, einschließlich Sprechblasen. Neben bandfüllenden Erzählungen in Bild und Wort wie dem im Speisesaal eines traditionellen Restaurants angesiedelten Diptychon über den Angestellten Monsieur Lambert (1965 und 1975) oder der Novelle über den Radverkäufer Raoul Taburin (1995), der nicht Radfahren kann, schuf Sempé auch Kurzgeschichten, bei denen die einzelnen Bilder durchnummeriert sind oder durch Pfeile verbunden.
Das eigentliche Herz seines Schaffens bilden freilich Zeichnungen, die für sich allein stehen. Viele von ihnen leben vom Missverhältnis zwischen Bild und Text – ein Kunstgriff, den der Band «Un léger décalage» (1977) bereits im Titel anführt. Eine «leichte Abweichung» besteht da etwa zwischen der Zeichnung zweier Urzeitmenschen in einer wüsten Felslandschaft und dem Sprechtext des einen, der beim Betrachten der Höhlenmalereien des anderen urteilt: «Was Sie machen, ist sehr gut, aber Ihre Galerie ist sehr schlecht platziert». Eine zweite Zeichnung zeigt einen immensen Atelierraum, in dem eine Heerschar von Weibsbildern wie wild putzt, Einkäufe herbeischleppt, den Tisch deckt und neben belegten Broten auch ein Riesentransparent anfertigt, das in Großbuchstaben verkündet: «Bewegung für die Frauenbefreiung». Ein drittes Bild zeigt einen mausgrauen Mittfünfziger mit Brille und Halbglatze, der mit einer Femme fatale bricht: «Sie müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, Irene, dass ich bloß eine Sternschnuppe in Ihrem Leben gewesen bin ».
Dieser Vertreter des farblosen französischen Mittelmaßes – oder des goldenen gallischen Mittelwegs? – ist eine wiederkehrende Figur in Sempés Alben. Durch ihn signalisiert der Autor, dass sein sanfter Spott alle trifft – und damit niemanden im Besonderen. Überzeichnete Porträts von Zeitgenossen, grafisch zugespitzte Kommentare zur Tagesaktualität waren seine Sache nicht. Sempé arbeitete für Zeitungen und Zeitschriften, von der populärsten wie «Paris Match» bis zur elitärsten wie «The New Yorker», aber er war weder Karikaturist noch Pressezeichner. Was der mit Stift und Feder bewehrte Moralist aufzuspießen suchte, war die Permanenz des Allzumenschlichen im Wandel der Zeiten.
Hochmut, Selbstzweifel oder Schadenfreude dampfte er so im Kleinformat des Alltäglichen auf ihren Witzgehalt ein. Gern stellte Sempé seine Protagonisten in monumentale Interieurs oder überwältigende Stadtansichten hinein, so dass man die Handlung – und ihre Träger – regelrecht suchen muss. Zusammen mit dem klaren Strich, der im Lauf der Jahrzehnte «jazziger» wurde, ist die von Details wimmelnde Panoramaansicht ein Markenzeichnen des Schöpfers. Dieser hatte schon zu Lebzeiten etwas Klassisches, eine Mischung aus Fassung, Verbindlichkeit und Vergangenheitsverhaftetheit, die ihn über wildere, «zeitgenössischere» Kollegen stellte. Weder gab es Diskussionen über seinen künstlerischen Rang noch wurde er je einer Schule oder Strömung zugeschrieben. Sempé war Sempé: ein Unikum. Das kleine Wunder dabei ist, dass er zwar meist den Mittelweg gewählt, aber kaum je Mittelmaß hervorgebracht hat.
Am 11. August, sechs Tage vor seinem neunzigsten Geburtstag, ist der Autor von «Nichts ist einfach» gefolgt von «Alles wird komplizierter» im provenzalischen Draguignan gestorben. Im Comichimmel hat ihn René Goscinny mit seiner Leibspeise empfangen: einem steak frites – auf der Speisekarte traditioneller französischer Restaurants das konsensfähigste, «durchschnittlichste» Gericht überhaupt.
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