Die Schauspielerin Judith Godrèche bezichtigt die Filmregisseure Benoît Jacquot und Jacques Doillon sexueller Übergriffe
2019 erhob Adèle Haenel schwere Anwürfe gegen Christophe Ruggia. Zwischen 2001 und 2004 habe sie der damals Enddreißiger im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren im Rahmen eines informellen, fast wöchentlichen Schauspielunterrichts unsittlich berührt und sexuell belästigt. Der Fall warf vor fünf Jahren hohe Wellen: Starschauspielerin klagt obskuren Filmregisseur an. Zu einem tiefgreifenden Umbruch, ja gar Wandel in Frankreichs Filmwelt führte er freilich nicht.
Jetzt hat Judith Godrèche in der Sache ähnliche, in der Schwere noch gravierendere Vorwürfe formuliert. Aus ihnen könnte – nach dem Rohrkrepierer von 2019 – die überfällige #MeToo-Explosion werden, die das betonharte Bollwerk aus Machismo und Misogynie, Patriarchat und Perversion des französischen Filmmilieus sprengt. Denn die Anklage richtet sich nicht gegen einen Unbekannten, sondern gegen zwei Altmeister des Autorenkinos.
In der Tageszeitung „Le Monde“ und kurz darauf im Radiosender „France Inter“ bezichtigte die heute 51-jährige Schauspielerin den Regisseur Benoît Jacquot, sie ab 1986 sexuell missbraucht, geschlagen und von Familie und Freunden isoliert zu haben. Godrèche war damals vierzehn, das Hörigkeitsverhältnis dauerte sechs Jahre. Eine Zeitlang lebte das ungleiche Paar in einer Wohnung, die die seit ihrem neunten Lebensjahr in Werbefilmen auftretende Darstellerin bezahlt hatte – wie’s scheint mit dem Einverständnis ihrer Eltern und unter dem gleichgültigen bis komplizenhaften Blick vieler Kulturschaffender. Godrèche wähnte sich verliebt und empfand zugleich Ekel – aus ihren Erinnerungen sprechen vor allem Verlorenheit und die völlige Preisgegebenheit an einen selbsterklärten Perversen.
Dieser soll sie auch an einen Gleichgesinnten „ausgeliehen“ haben, den Berufskollegen Jacques Doillon. Mit ihm drehte das durch Jacquot lancierte Jungtalent den Film „La Fille de 15 ans“ – dem deutschem Titel gelingt mit seiner ungetreuen Übersetzung („Eine Frau mit 15“) ein beredter Lapsus: Mit fünfzehn ist ein Mädchen eben noch keine Frau. Doillon sprang bei den Dreharbeiten für einen Schauspieler ein und knutschte Godrèche in einer kurzfristig eingefügten Liebeszene ab, für die er fünfundvierzig (!) Einstellungen verlangte. Auch soll er sich an der Vierzehnjährigen im Pariser Domizil seiner damaligen Frau Jane Birkin vergangen haben. Beide Regisseure hat die Schauspielerin mit Berufung auf Zeugen und materielle Beweisstücke angezeigt; beide bestreiten die Vorwürfe und haben ein Recht auf Unschuldsvermutung.
Seit Ende letzten Jahres vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein Vertreter von Frankreichs Film- oder Fernsehwelt eines geraubten Kusses, einer unsittlichen Berührung, wo nicht gar einer Vergewaltigung bezichtigt würde. Jüngst machten so die Regisseure Nicolas Bedos, Frédéric Beigbeder, Philippe Garrel, Gérard Miller und Samuel Theis sowie der TV-Moderator Sébastien Cauet ungewollt Schlagzeilen. Doch auch die drei am stärksten mediatisierten älteren Fälle standen erneut im Brennpunkt der Aktualität. Anfang Dezember belegten so neue Bild- und Tonaufnahmen, wie widerwärtig vulgär Gérard Depardieu Frauen und sogar kleine Mädchen verbal sexualisiert. Ende desselben Monats wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung gegen den ehemaligen Nachrichtensprecher Patrick Poivre d’Arvor eingeleitet – der Fall schwelt seit drei Jahren. Und letzte Woche ordnete die Pariser Staatsanwaltschaft die Verweisung von Adèle Haenels mutmaßlichem Nötiger an ein Zivilgericht an.
Der Kasus Depardieu, über den in diesem Blog bereits berichtet wurde, ist auch insofern interessant, als er beispielhaft zeigt, wie Kreise am rechten Rand des politischen Spektrums mächtige weiße Männer verteidigen, die sexueller Übergriffe bezichtigt werden. Emmanuel Macron, der sich je länger, desto mehr zum Sprachrohr der ranzigsten Reaktion macht, legte in einer Fernsehsendung Ende Dezember eine Blütenlese der einschlägigen Schlagworte vor, von der „Gerüchteküche“ und ihrer „Überhitzung“ über das „Zeitalter des Verdachts“ und seine „Moralordnung“ bis hin zur „Menschenjagd“. Gewiss: Das kalkulierte Skandalon der Ode auf den Steuerexilanten und Diktatorenfreund Depardieu, der Frankreich mit Stolz erfülle (so der Präsident), sollte zuvörderst von der Aufnahme rechtsextremer Postulate in das jüngste Immigrationsgesetz ablenken. Aber seit seinem Amtsantritt 2017 hat Macron die #MeToo-Bewegung konsequent als „Republik des Verdachts“, „Gesellschaft der Denunziation“ oder „Gemeinwesen der Inquisition“ abgetan. Im vorliegenden Fall ging er noch weiter, indem er die Unterstellung von Organen des rechtsextremen Bolloré-Medienimperiums aufgriff, die betreffenden Bild- und Tonaufnahmen seien manipuliert worden. France Télévisions, das das Filmmaterial ausgestrahlt hatte, bestellte kurzerhand einen Gerichtsvollzieher. Dieser strafte die Fake News der Bolloré-Gerüchteküche Lügen – und stellte so auch den Präsidenten bloß.
Der Leiter des Kinobereichs von France Télévisions, Manuel Alduy, hat als bislang Einziger Konsequenzen angekündigt. Die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt werde weiterhin Spielfilme ausstrahlen, in denen Depardieu mitwirkt (es handle sich schließlich um kollektive Schöpfungen), nicht aber Retrospektiven oder andere Hommagen ausrichten. Und auch die Finanzierung allfälliger Filmprojekte mit dem Star werde man sich gründlich überlegen. Der ehemalige Schauspieler ließ seinerseits Mitte Dezember verlauten, er werde keine neuen Verpflichtungen mehr eingehen. Gedreht hat er schon seit gut einem Jahr nicht mehr.
Der Filmwelt den Rücken gekehrt hat indes auch Adèle Haenel. In einem offenen Abschiedsbrief geißelte sie im Mai 2023 „die flächendeckende Gefälligkeit des Berufsstands gegenüber sexuellen Aggressoren“. Judith Godrèche befürchtet ihrerseits, nie wieder Arbeit zu finden – zu viele Institutionen habe sie angegriffen, von der Zeitschrift „Cahiers du cinéma“ bis zur staatlichen Förderungsbehörde Centre national du cinéma. Zeugnisse von Zuarbeiterinnen der Filmindustrie, die die Zeitungen „Le Monde“, „Mediapart“ und „Libération“ zusammentrugen, evozieren ein geschlossenes Milieu, dem die Furcht, entlassen oder auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden, eine Art Omertà aufzwingt. Unter dem Gewand der Fortschrittlichkeit sei dieser Mikrokosmos zutiefst reaktionär und archaisch. Projektweise angeheuerte intermittents dienten darin ihren Bossen wie einst die Fronarbeiter den Grundherren.
Einige Filmwissenschaftlerinnen und -regisseurinnen gehen in der Systemkritik noch weiter. Über die ökonomisch-patriarchalischen Strukturen der Filmindustrie hinaus bringe das Medium als solches eine „Kultur der Vergewaltigung“ hervor, argumentieren sie – durch den male gaze, den Männerblick, der viele Werke töne, durch die Erotisierung von Gewalt gegen Frauen, nicht zuletzt durch den in Frankreich auf die Spitze getriebenen culte de l‘auteur. Besagter anbetungswürdige Schöpfer sei zwangsläufig ein Mann, seine Muse ebenso obligat eine femme-enfant, wie bei den Nouvelle-Vague-Autoren Godard (mit seiner Kindfrau Anna Karina), Rohmer und Truffaut.
Benoît Jacquot habe sich in diese Geschichte eingeschrieben, indem er für Judith Godrèche und später für andere Mädchen und blutjunge Frauen wie Isild Le Besco oder Julia Roy die Rolle des Pygmalion spielte. Dass der Schöpfer dabei über den Gesetzen schwebte, verlieh seinem Tun den Hautgout der genialischen Transgression. In einem Dokumentarfilm des wie bereits erwähnt jüngst selbst sexueller Übergriffe bezichtigten Gérard Miller nannte Jacquot das Filmemachen 2011 „einen Deckmantel für diese Art von Laster“. Seine Begierde für Minderjährige wollen Beobachter in Filmen sublimiert sehen, die junge Mädchen als Objekte des aggressiven Liebesverlangens älterer Männer zeigen, etwa „Journal d’une femme de chambre“ oder „Dernier Amour“.
Isild Le Besco, heute selbst Autorin von Spielfilmen, skizzierte in „Le Monde“ eine mögliche Rettung für ein System, das bis jetzt zur Selbstperpetuierung verdammt schien: „Wenn alle, die diese Art psychischer oder physischer Gewalt erlitten haben, die Kraft finden, sich ihr zu stellen und sie zu benennen, wenn sie vor allem aufhören, sie zu reproduzieren, dann ist die Hoffnung erlaubt, dass die neuen Generationen im Film (und ganz allgemein in den Künsten) auf einer gesünderen Grundlage arbeiten werden. Ja, das Anprangern dieser Taten könnte sogar – zum Wohle der Kreativität – unsere Vorstellungswelt von Frauen, Männern und von dem, was sie verbindet, erneuern.“
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