„Charlie Hebdo“ gedenkt des Terroranschlags von 2015 – mit Karikaturen von Irans Revolutionsführer
Am 7. Januar jährt sich der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zum siebten Mal. Aus diesem Anlass hat das Pariser Satireblatt am 4. Januar eine Sonderausgabe herausgebracht. Diese blickt nicht zurück in die blutige Vergangenheit, sondern befasst sich mit einer nicht minder brutalen Gegenwart: der Niederschlagung der Proteste im Iran. Aufhänger ist eine typische „Charlie“-Aktion: ein im Dezember ausgeschriebener Wettbewerb für Karikaturen des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei. Die Initiative bezieht sich maliziös auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 1993, in dem Verantwortliche der Islamischen Republik dazu aufgerufen hatten, Salman Rushdie zu karikieren, den Autor des ihnen verhassten Romans „Die satanischen Verse“.
Von den über dreihundert Zeichnungen, die „Charlie Hebdo“ aus aller Welt erhalten hat, publiziert es die fünfunddreißig „ausgereiftesten, originellsten und treffendsten“. 2015 war die Redaktion wegen des Nachdrucks dänischer Mohammed-Karikaturen fast ausgelöscht worden – zum Jahrestag des Terroranschlags, der zwölf Todesopfer gefordert hatte, doppeln die nach wie vor unter Polizeischutz stehenden Überlebenden und ihre neuen Kolleginnen und Kollegen jetzt mit einer geballten Ladung Khamenei-Spottbilder nach.
Zwei Hauptthemen dominieren darin klar. Zum einen geißeln Wettbewerbseingaben die Gewalt gegen Demonstranten. Ein Bild zeigt so Khamenei mit einem Schraubaufsatz anstelle der fehlenden rechten Hand; vor ihm liegen Prothesen mit einem Schlagstock, einer Pistole, einem Messer – „which one this time?“, fragt eine Sprechblase. Etliche Karikaturen zeigen Henkersknoten: als Turban auf dem Haupt des Revolutionsführers; als Rettungsseil, an dem sich dieser aus einem Blutmeer herauszuhieven sucht; als Tau, an dem Protestierende zerren, um dem Ajatollah die Zähne aus dem aufgesperrten Mund zu ziehen.
Zum andern lassen viele Zeichnungen Irans Frauen als starke, stolze Kämpferinnen hochleben. Ein Cowgirl sucht so einen panisch fliehenden Khamenei mit dem Lasso einzufangen. In ein schwarzes Ungeziefer verwandelt, wird der Revolutionsführer durch den Stilettoabsatz eines Pumps aufgespießt. Vier Rapunzeln drehen aus ihrer Haarpracht einen Strick, an dem der Ajatollah baumelt, vergeblich nach einer Schere hangelnd, die eine der vier ihm neckisch vor die Nase hält.
„Alle Teilnehmer haben einen Platz in der Hölle gewonnen“ überschreibt „Charlie Hebdo“ die vier Seiten mit den abgedruckten Wettbewerbseingaben. Ob die Aussage zutrifft, vermögen wir nicht zu verifizieren. Fest steht hingegen, dass iranische (und auch pakistanische) Trollfarmen den Twitteraccount des Satireblatts nach der Wettbewerbsausschreibung mit Beistandsbekundungen an Khamenei überschwemmt haben. So zu lesen in einem der siebzehn Artikel auf den hinteren Seiten der Sonderausgabe. Diese Beiträge beleuchten allesamt Aspekte der gegenwärtigen Protestbewegung. Eine gewisse Linke, „die seit je zarte Gefühle für die kaputtesten Regimes auf Erden hegt, solange diese nur Amerika hassen“, moniert Gérard Biard, zeige nur wenig Interesse für die „neue iranische Revolution“. Jene von 1979 betreffend erinnert Yann Diener an die Verblendung von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, vor allem aber von Michel Foucault. Die philosophischen Leuchten und Ikonen der Linken hätten „an der Banalisierung einer im Entstehen begriffenen Theokratie“ mitgewirkt.
Ob auch ein anderer, reformierter Islam denkbar sei, stellt Laure Daussy eine zigmal wiederkäute Frage. Die Antwort ist indes originell: Die Reporterin hat eine Reflexionsgruppe von sogenannten Neo-Mu‘tazilisten aufgespürt, Anhängern einer Strömung, die ihre Blütezeit zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert erlebte. Ihre Maximen – kontextualisieren, analysieren, interpretieren, kritisieren – beschwören das westliche Ideal eines aufgeklärten Islams. Mitglieder der Gruppe, mit denen Daussy spricht, haben nichts einzuwenden gegen weibliche Imame, gleichgeschlechtliche Ehen, zur Not sogar Mohammed-Karikaturen. Dass sich die Neo-Mu‘tazilisten wegen der Bedrohung durch Islamisten heimlich treffen müssen, spricht Bände.
Schließlich thematisieren etliche der Beiträge die sexuelle Befreiung und namentlich die Frauenemanzipation im Iran und in seinen Nachbarstaaten. Auslöser der seit Mitte September andauernden Proteste war bekanntlich die mutmaßliche Erschlagung von Mahsa Amini durch Mitglieder der Teheraner Sittenpolizei nach ihrer Festnahme wegen inkorrekten Tragens des Hidschabs. Die Zweiundzwanzigjährige war kurdischer Abstammung – die gegenwärtig auf Irans Straßen skandierte Losung „Frauen, Leben, Freiheit“ kommt aus Kurdistan, erklärt Natacha Devanda in einem Artikel, der an die Rolle kurdischer Frauenbrigaden im Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" erinnert.
Von stupender Aktualität sind endlich zwei Artikel aus dem Frühjahr 1979. Sylvie Caster reiste da für „Charlie Hebdo“ als Mitglied einer feministischen Delegation in den Iran (unter den sechzehn Akademikerinnen, Journalistinnen usw. befand sich auch Alice Schwarzer). Die Autorin schreibt freimütig über ihr Missbehagen am Schleiergebot und über die Verwerfungen, die dieses unter Linken zeitigt; über schiitische „Feministinnen“, die Erfüllung im Kochen und Kinderkriegen suchen; und über die Legalisierung von Polygamie sowie über die strafrechtliche Ahndung von Homosexualität im Mullah-Regime. Acht Wochen nach Khomeinis Machtergreifung war da schon alles gesagt.
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