Besuch der (und Bemerkungen zur) jüngst eröffneten Cité internationale de la langue française
Jedem Präsidenten sein großes kulturelles Bauprojekt. Auch Emmanuel Macron hat sich jetzt in diese Tradition eingeschrieben, die Georges Pompidou 1969 mit dem Beschluss der Errichtung des gleichnamigen Kulturzentrums in Paris begründete. Gewiss, die Zeiten haben sich gewandelt: Statt einem Aufsehen (und erhitzte Diskussionen) erregenden Neubau handelt es sich bei der Ende Oktober eröffneten Cité internationale de la langue française in Villers-Cotterêts „bloß“ um einen Umbau. Und das Budget für die Umnutzung des ehemaligen Königsschlosses in dem 11 000-Seelen-Städtchen zwischen Paris und Reims ist mit 211 Millionen Euro relativ räsonabel. Zumindest verglichen mit dem Musée du Quai Branly – Jacques Chirac (290 Millionen Euro) oder der Bibliothèque nationale de France – François Mitterrand (umgerechnet 1,2 Milliarden Euro).
Die eigentliche gute Überraschung betrifft indes den Inhalt. Eine Institution, die der französischen Sprache gewidmet ist – das klingt auf dem Papier eher kopflastig, verstaubt, dröge. Doch der tausendzweihundert Quadratmeter große Dauerparcours, der fast die ganze Beletage des logis royal um einen nunmehr spektakulär überdachten Innenhof einnimmt, entpuppt sich ganz im Gegenteil als verspielt, interaktiv, farbenfroh. Und dabei stets lehrreich ohne Pedanterie, und zwanglos zum Nachdenken anregend.
Den Auftakt macht eine Mona Lisa, die Marcel Duchamp 1930 frech mit Schnurrbart und dem Titel „L.H.O.O.Q.“ versah. Spricht man die fünf Buchstaben auf Französisch aus, ergibt sich phonetisch ein schlüpfriges Sätzchen, das wir züchtig mit „Ihr brennt das Gesäß“ übersetzen wollen. Der dadaistisch-ikonoklastische Spaß schlägt dabei einen Bogen zwischen dem Inhalt der Schau – alles, was die französische Sprache tangiert, Wortspiele inbegriffen – und dem Ort, der sie beherbergt: ein Schloss, das im Kern durch François I. erbaut wurde – dem König, der 1518 Leonardo da Vinci das berühmteste Frauenporträt aller Zeiten abkaufte. Ähnlich beziehungsreich sind viele Exponate.
Das erste Kapitel trägt den Titel „Une langue monde“. Es zeigt, dass (und wie) die Weltsprache – eine von nur sechs unter den siebentausend rund um die Erde gesprochenen Idiomen, neben Arabisch, Englisch, Niederländisch, Portugiesisch und Spanisch – eine Sprach-Welt für sich bildet. Von ihrer Anziehungskraft zeugen namentlich die Werke auf Französisch schreibender Autoren mit fremder Muttersprache, von Giacomo Casanova bis zu den Literaturnobelpreisträgern Samuel Beckett und Gao Xingjian. Aber auch die Illustrationen der Fabeln von La Fontaine, die zwischen 1828 und 1857 abessinische, chinesische oder persische Miniaturmaler anfertigten.
Doch die große Zeit des Französischen war das achtzehnte Jahrhundert, als von Petersburg bis Lissabon in der Sprache von Diderot, Rousseau und Voltaire konversiert wurde. Und Antoine de Rivarol ein Preisausschreiben der Berliner Akademie zur Frage „Warum ist das Französische die Universalsprache Europas?“ gewann – mit Schlagsätzen wie „Was nicht klar ist, ist nicht französisch“. Die Schau geht noch weiter zurück bis zu den Anfängen der Kolonisierung: Diese wurde – auch – durch das hehre Bestreben rechtfertigt, den „Wilden“ die Zivilisation zu bringen. Tatsächlich jedoch diente die Sprache meist als Werkzeug der Unterwerfung – in Algerien etwa gingen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bloß zwei Prozent der kleinen Muslime zur Schule, gegen vierundachtzig Prozent ihrer europäischen Altersgenossen. Doch die Unterdrückten eigneten sich das Idiom der Unterdrücker an, gleich einer „Kriegsbeute“ (Kateb Yacine) – und benutzten es als Waffe im Kampf um die Befreiung.
Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Erfindungsreichtum der Benutzer des Französischen. Sie haben dem Deutschen, dem Italienischen, dem Spanischen, ja dem Hebräischen Wörter wie „anglais“ (sic), „pommade“, „vanille“, „tohu-bohu“ entlehnt – das Französische, befinden die Ausstellungsmacher pointiert, sei „eine Kreolisierung des Lateinischen auf keltischer Grundlage mit Anleihen bei den germanischen Sprachen – und bei allen Idiomen der Welt“. Umgekehrt bildet es die „freigebigste“ Quellsprache der Welt – über die Hälfte des englischen Vokabulars ist zum Beispiel französischen Ursprungs. Dabei wandeln sich nicht nur Wortbedeutungen im Lauf der Zeiten – aus dem lateinischen „etwas“ (rem) wird so ein französisches „nichts“ (rien) –, sondern auch Vokabular und Aussprache. Eine Binsenwahrheit, gewiss – welcher die Schau jedoch mit Audio-„Rekonstruktionen“ tönende Evidenz verleiht, etwa mit jenen der Stimmen Ludwigs des Deutschen (dessen „Straßburger Eide“ aus dem Jahr 842 als die Geburtsstunde des Französischen gelten), der Jungfrau von Orléans und des in Villers-Cotterêts geborenen Romanciers Alexandre Dumas.
Das letzte Kapitel endlich beleuchtet die vielerlei Modalitäten der staatlichen Sprachpolitik. Den Anfang macht hier das Edikt von Villers-Cotterêts, benannt nach dem Schloss, in dem es 1539 durch François I. unterzeichnet wurde. Es erhebt die „französische Muttersprache“ („langaige maternel françois“) gegen das Lateinische zur alleinigen Rechtssprache. Die Ausstellungsmacher streichen aus verständlichen Gründen seine Bedeutung stark heraus: Demgegenüber relativieren Linguisten wie Geneviève Clérico (in Jacques Chaurands nach wie vor maßstabsetzender „Nouvelle Histoire de la langue française“), das Lateinische sei seinerzeit bereits auf dem Rückzug gewesen, das Französische auf dem Vormarsch – das Edikt habe mithin bloß Gesetz und Praxis in Einklang gebracht. Bis heute umstritten ist, ob „langaige maternel françois“ restriktiv das Idiom der Île-de-France meint oder extensiv jede der vielen Regionalsprachen auf dem Territorium des Königreichs. In ersterem Fall bildete das Edikt einen frühen Akt der sprachlichen Zentralisierung. Diese betrieb dann die Erste Republik 1794 brachial mit einem Aufruf zur „Ausrottung“ der regionalen Idiome. Gleich einem Einheitsmaß für Länge (der Meter) oder für Gewicht (das Kilogramm) sollte auch eine Einheitssprache durchgesetzt werden. Seit der Nachkriegszeit hat der Staat hier eine bemerkenswerte Kehrwende vollzogen: Heute sieht er die zweiundsiebzig Regionalsprachen als Kulturerbe an, mithin als schützenswert. In der Schau sind sie allesamt zu hören, etwa Francique, Gallo und Vivaro-alpin aus der Metropole oder Arawak, Cèmuhî und Xârâcùù aus Übersee.
Der Parcours bildet ein Geflecht aus Stimmen, bewegten Bildern und Sprachspielchen zum Mitmachen, vom bilingualen Pingpong bis zur „magischen Bibliothekarin 5.0“, die einem fünf Fragen stellt und dann – verblüffend zielsicher – eine Lektüre empfiehlt. Doch so bunt und kontrastreich die einzelnen Pinselstriche, so unzweideutig die Aussage des Gesamtbilds. Das Französische, genauer: die französischen Sprachen werden hier als weltoffen gezeichnet, als experimentierfreudig und in stetem Wandel begriffen. Das genaue Gegenteil des in der Galauniform vergangener Größe mumifizierten Regelwerks aus Verboten und Verteidigungswällen, als welches Vertreter rechter und rechtsextremer Lager das Idiom gern im Kampf gegen alles „Fremde“ instrumentalisieren.
Warum hier von Politik reden? Nun, Sprache ist ein maßgeblicher Bestandteil von Identität; die identité française wähnen der Rassemblement national (RN) sowie große Teile von Parteien, die vor zwanzig Jahren noch als bürgerlich-liberal galten, durch „Überfremdung“ bedroht; dialektale Formen des Arabischen bilden heute zahlenmäßig Frankreichs zweite Sprache (was die Schau nur flüchtig, der dazugehörige Katalog dafür aber gleich viermal erwähnt); Villers-Cotterêts hat 2014 einen RN-Bürgermeister gewählt und diesen 2020 im Amt bestätigt – Macrons Kulturprojekt besitzt klar auch eine politische Stoßrichtung. Viele Fäden laufen in der Cité internationale de la langue française zusammen.
Spaziert man durch das Städtchen, frappiert sogleich, wie ruhig es darin ist. Auf dem Weg zum Hauptplatz begegnen einem zwei Mamas mit Kinderwagen; auf der Place du Dr Mouflier sitzt ein schlichtes Gemüt auf einer Bank und brabbelt in ein Handy, aus dem Céline Dion tiriliert – sonst weit und breit niemand. Viele Läden sind definitiv geschlossen; hier und da verfällt ein Haus. Die Arbeitslosenrate beträgt mit achtzehneinhalb Prozent das zweieinhalbfache des Landesdurchschnitts. Villers-Cotterêts ist eine Schlafstadt: Der erste Arbeitgeber des Orts – noch vor Volkswagen – heißt „Großparis“. Aus den Abendzügen steigen Trüppchen müder Trabanten; die Gemeinde fristet – wie die ganze Region – ein Randdasein, fern der Dynamik der Hauptstadt und anderer Ballungszentren. Wenig Wunder, errang der RN letztes Jahr drei der fünf Parlamentssitze des ländlichen Départements Aisne, an dessen südwestlichem Rand Villers-Cotterêts liegt.
Frank Briffaut, der Bürgermeister des Städtchens, ist ein „Frontist“ alten Zuschnitts. Der ehemalige Fallschirmspringer stieß schon 1977 zum damaligen Front national, fünf Jahre, nachdem die damalige Splitterpartei durch Nostalgiker des Marschalls Pétain, der algerischen Ultras und der Waffen-SS gegründet worden war. Er betreibt, zurückhaltender als viele RN-Parteikameraden, eine klassisch rechtsextreme Politik: Subventionsstreichungen für die Menschenrechtsliga und für Schulen, die die Sprachen und Kulturen von Migranten lehren; Ausgrenzung der (oft dunkelhäutigen) Armen durch Einstellung des Schulbusverkehrs für Randviertel oder Quasi-Verdoppelung der Kantinentarife; im Übrigen fast völlige Untätigkeit. Und das, obwohl die Kassen gut gefüllt sind – mangels Projekten übersteigen die Einnahmen die Ausgaben.
Wird die Cité internationale de la langue française die lokale Wirtschaft beleben? Zweiunddreißig Posten wurden geschaffen, vierzig weitere externalisiert. Das Jahresbudget in Höhe von rund acht Millionen Euro trägt zu drei Vierteln das vom Kulturministerium abhängende Centre des monuments nationaux. Eine potenziell stattliche Einnahmequelle bilden die rund 7500 Quadratmeter Nutzfläche in den Wirtschaftsgebäuden, die vor dem logis royal einen majestätischen Vorhof bilden. Ihre Hülle wurde instandgesetzt, aber im Innern befinden sie sich noch im Zustand des Quasi-Rohbaus. Seriöse Mietbewerber haben dieser Tage ihre Kandidaturen eingereicht, freut sich der Direktor der Cité, Paul Rondin, im Telefongespräch. Doch die Startinvestitionen sind hoch und Villers-Cotterêts ist in Sachen Tourismus noch fast ein unbeschriebenes Blatt.
In denkmalpflegerischer und mehr noch in historischer Hinsicht war die Restaurierung des Schlosses überfällig. Der Bau ist verbunden mit François I. und seinem Sohn Henri II. sowie – über den schillernden Bruder des Sonnenkönigs – mit dem Orléans-Zweig der Bourbonen. An seiner Gestaltung wirkten die Architekten Philibert Delorme, Jules Hardouin-Mansart sowie, was die Gärten betrifft, André Le Nôtre mit. Leider ist davon kaum mehr etwas zu sehen: Seit der Revolutionszeit als Kaserne, Verwahrungsort für Arme, Hospiz und endlich Altersheim genutzt, bewahrt das im Innern verwüstete Château nur noch das Dekor der Kapelle sowie zweier Prunktreppen. Deren in Stein gehauene mythologische Gestalten sowie Salamander und andere königliche Insignien überwältigen freilich.
Macron hat ein wichtiges, wenngleich nicht erstrangiges Baudenkmal gerettet und eine ebenso originelle wie ansprechende Institution geschaffen. Konnte sich der Präsident bei der Eröffnung „seines“ grossen kulturellen Bauprojekts zu einem fehlerfrei absolvierten Parcours gratulieren? Er hätte es tun können, wären ihm nicht in der Zielgerade zwei Fauxpas unterlaufen. Erstens stilisierte der Präsident in seiner Einweihungsrede Toussaint Louverture zur „Metapher“ des Befreiungskämpfers, der die Sprache der Unterdrücker übernimmt und gegen diese wendet. Nur, dass der Anführer der Revolution, die 1804 zu Haitis Unabhängigkeit führte, als in Cap-Haïtien geborener Sklave westafrikanischer Abstammung sowohl das Idiom seiner beninischen Vorfahren sprach als auch (und vor allem) Haitianisch-Kreolisch – aber nur brüchig Französisch. Seine Verlautbarungen diktierte er auf kreyòl ayisyen europäischen Sekretären; diese übersetzten sie in die Sprache der Kolonialherren. Ein präsidentieller Schnitzer? Gut achtzig Millionen Frankophone in der Karibik und in subsaharischen Staaten (mit denen die Beziehungen zurzeit ohnehin schon gespannt sind) mögen das anders sehen.
Zweitens bezog Macron noch am selben Tag Stellung in der jüngsten Diskussion um gendergerechte Sprache. Im Senat war kurz zuvor ein x-ter Gesetzesvorschlag zum Thema angenommen worden, der das Verbot der écriture inclusive in juristischen Texten, Arbeitsverträgen, Gebrauchsanweisungen und so weiter stipuliert. Im Französischen, beschied Macron, „übernimmt das Maskulinum die Rolle des Neutrums; man muss keine Punkte in der Mitte von Wörtern hinzufügen oder Bindestriche oder andere Sachen, um sie lesbar zu machen.“ Eine der angesehensten Sprachautoritäten des Landes, der 2020 verstorbene Lexikograph Alain Rey, hatte demgegenüber befunden, die französische Sprache besitze „zu ihrem Unglück“ kein Neutrum: Die Kongruenz mit dem Maskulinum sei „eindeutig antifeministisch.“ Wie auch immer man zu der Frage steht: Es ist weder an einem Präsidenten noch an einem Parlament, den Sprachgebrauch zu regeln. Benutzer:innen bestimmen selbst, was sich durchsetzt und was verschwindet.
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