Paris bei Nacht zur Lockdownzeit
Archivstücke – Texte, die nicht mehr brandaktuell sind, aber hoffentlich noch immer lesenswert
Dieser im Mai 2021 verfasste Artikel wurde bei der Veröffentlichung um seinen historischen Mittelteil amputiert. Ich finde die vollständige Fassung stimmiger und hole sie drum, ein Jahr später, aus dem Archiv hervor – illustriert mit Schnappschüssen, die ich bei dem geschilderten nachmitternächtlichen Erkundungsgang durch Pariser Ausgehviertel unter Ausgangssperre gemacht habe.
„Laissez-moi danser, chanter en liberté“ – der melodiöse Ruf hallt durch die einsame Nacht, wie bestellt für unsere Reportage. Seit dem 17. Oktober 2020 herrscht in Paris eine nächtliche Ausgangssperre mit fluktuierender Anfangszeit; heuer lag sie fast durchweg bei neunzehn oder sogar achtzehn Uhr. Für einen Erkundungsgang zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens habe ich bewusst die ersten Sonntagstunden gewählt – in zunehmend verschwommener Vorzeit, vor der Pandemie, vor den (zu tief) geschätzt 110 000 Toten, vor dem von höchster Instanz ausgerufenen Krieg gegen das Virus tanzte zu dieser Zeit jeweils der Bär, in der ganzen Lichterstadt. Jetzt aber herrscht eine eigentümliche Menschenleere.
Eigentümlich deshalb, weil man die Präsenz anderer Menschen zwar spürt. Sie rasen in schwarzen Autos über die ausgestorbenen Boulevards. Sie feiern lautstark hinter finsteren Fassaden, da, wo ungewohnt helles Licht aus offenen Fenstern flutet. Aber sehen kann man sie nicht. Innert vier Stunden sind mir höchstens zwanzig Passanten begegnet. Einige führen ihren Hund Gassi – was erlaubt ist. Andere sind klar auf verbotener Vergnügungstour. Dritte wiederum spähen vorsichtig aus Toreinfahrten heraus, ein Auge auf das Handy geheftet, das andere auf die Straße – sie bangen, während dem Warten auf den bestellten Funkmietwagen von der Polizei erwischt zu werden. Der erste Verstoß gegen die Ausgangssperre kostet 135 Euro, renitenten Wiederholungstätern drohen eine Geldstrafe von 3750 Euro sowie sechs Monate Haft.
An die schwache Lichtintensität der Ville Lumière nach Sonnenuntergang hat man sich schon gewöhnt. Sie erklärt sich nicht durch das Herunterdimmen der Straßenbeleuchtung, sondern durch das Wegfallen der Illumination von Kinos, Theatern und Gastbetrieben. Doch die Verlassenheit von Hochburgen der Geselligkeit frappiert bei jedem der seltenen nächtlichen Ausgänge aufs Neue. In der Rue de Lappe, wo sich Bar an Bar reiht, hallen einzig meine Schritte über die Pflastersteine. Da, wo die Rue de la Roquette in die öde Place de la Bastille mündet, sind alle Billigrestaurants geschlossen – doch in der lauen Luft hängt noch ein Duft von Frittiertem. Vor der Republikanischen Garde riecht es dann nach Pferdeäpfeln; der Autoverkehr ist so spärlich, dass eine Kompagnie wohlgenährter Ratten über den Boulevard watschelt. Auf der Île Saint-Louis hört man einzig das Plätschern der Wasserspiele, die ein katarischer Scheich im Garten des Hotel Lambert in Betrieb gesetzt hat.
Den Boulevard Saint-Germain herab saust wie ein Geisterbus der leere Noctilien mit der ominösen Nummer 13; auch die Verkehrsinsel am Carrefour de l’Odéon ist völlig entvölkert. Beim verwaisten Café Buci, wo einst um drei Uhr nachts die letzten autochthonen Nachtvögel im von Touristen kolonisierten Quartier Pommes frites und Champagner zu bestellen pflegten, rauscht immerhin auf einem Elektroroller eine Kreatur im Webpelz ums Eck. Ihrem Vokalisieren mit Falsettstimme antwortet am Eingang der Passage Richelieu, die zur Glaspyramide des Louvre führt, ein Clochard im Delirium tremens. So tief wie tibetanische Mönche psalmodiert er Fantasieworte. „Süße Musik im Wind des Wahns“, kommentiert ein Graffiti in der gleichnamigen Straße, derweil bei der Metrostation Sentier junge Leute von einem Balkon herab „Laissez-moi danser, chanter en liberté“ jaulen. „Lasst mich tanzen, in Freiheit singen“ – der Hit von Dalida taugt zur heimlichen Hymne für Hunderttausende, die sich durch die Ausgangssperre ihrer Abendvergnügungen beraubt sehen.
Ein Gutteil der Faszinationskraft von Paris beruht seit Jahrhunderten auf dem Glanz seiner Nächte. Mit dem schleichenden Bedeutungsverlust des Königtums im Lauf des Siècle des Lumières, dem Zeitalter der Aufklärung, riefen Aristokraten und Großbürger in der Hauptstadt, fern vom Hof in Versailles, Salons ins Leben, wo man beileibe nicht nur philosophierte, sondern vor allem spielte und speiste. In den letzten Jahren des Ancien Régime wurde dann der Palais-Royal, ein 1784 eröffneter Komplex von Arkadengängen mit Galerien unweit des Louvre, zum Versammlungspunkt einer – mit Ausnahme der Unterschicht – durchaus gemischten Gesellschaft. Diese frönte dort bis zu später Stunde allen erlaubten und verbotenen Freuden des Geistes, vor allem aber der Sinne.
Die sittenstrenge Revolution, der alles Nächtliche suspekt war, vermochte der Freizügigkeit kein Ende zu setzen. Ja, nach dem Sturz der Jakobiner entstand im Viertel des Palais-Royal eine hedonistische Gegenbewegung: der Clan der „Muscadins“, zwei- bis dreitausend extravagant gewandete Jünglinge, die dem Schweißgeruch des Tagewerks den Moschusduft der nächtlichen Verlockungen vorzogen, sich hochmütig weigerten, das plebejische „R“ zu rollen, und mit Knüppeln Jagd auf die verbliebenen jakobinischen „Te-o-isten“ machten. Man kann diese geschniegelten Reaktionäre als Vorläufer der Dandys ansehen, die ab 1820 zu einer der Tragsäulen des Pariser Nachtlebens wurden – und es, durch allerlei Metamorphosen hindurch, bis heute geblieben sind.
Vom Elitarismus rückten die „nuits parisiennes“ indes bald ab. Zählte „le monde“, die kleine Welt der hauptstädtischen Nachschwärmer, um 1840 zwischen fünfhundert und dreitausend handverlesene Mitglieder, so gingen mit dem Aufkommen der öffentlichen Bälle und mit dem Aufschwung der Grands Boulevards Demokratisierung und Vermassung einher. In Dutzenden von Etablissements für jede und jeden, von der Grisette bis zur Matrone, vom einfachen Soldaten bis zum Salonlöwen, schwangen ab Mitte des Jahrhunderts Polkatänzerinnen am Arm schnurrbärtiger Kavaliere die Krinolinen. Napoleon III. instituierte die „fête impériale“, ein üppig aufgefächertes Vergnügungsangebot, das den Glanz des Hofes markant steigerte. Unter seiner Ägide entstanden ein neuer Typ von Etablissement, das Café-concert, in dem Frauen sangen und deklamierten, und ein neues Genre von lyrischem Amüsement, die durch Jacques Offenbach unsterblich gemachte Opéra-bouffe.
Die Belle Époque trieb den Prozess der Vermarktung auf die Spitze. Touristenherden aus der ganzen (abendländischen) Welt wurden in die Cafés-concerts gepfercht; die Prostitutionsbranche zählte bis zu 300 000 Gewerblerinnen. In Reaktion darauf entstanden die zunächst spartanisch-elitären Cabarets von Montmartre, eine Mischung aus Schenke und Künstlerklub, deren berühmtestes Le Chat Noir war. Doch bald florierte auch auf dem „Freudenhügel“ eine Industrie der merkantilen Verruchtheit. Nach dem Krieg migrierten die Nachtvögel nach Montparnasse, wo sich in den Music-Halls das textbetonte, engagierte Chanson durchsetzte. In den Goldenen Zwanzigern war Paris mehr denn je ein Fest: kreativ, kosmopolitisch – die Kunstkapitale der Welt. Dem setzte die deutsche Invasion nur halb ein Ende: Zwar verschwanden die Ausländer, doch dank der Ausgehfreude der Einheimischen (und ihrer Besetzer) stiegen die Einnahmen des Nachtgewerbes aufs Zwanzigfache der Vorkriegszeit! Und bis auf Josephine Baker dachte kaum jemand in der Welt des Varietés an Widerstand.
Dafür entstand mit den „Zazous“ eine amerikanisierte Gegenkultur, die den Boden bereitete für die missbräuchlicherweise „Existenzialisten“ genannten Nachtschwärmer (von denen die wenigsten Sartre und Beauvoir gelesen haben dürften). Die Feste, die diese Kinder der Weltwirtschaftskrise nach der Befreiung in den Jazzkellern von Saint-Germain-des-Prés feierten, wurden legendär. Doch zählte die „existenzialistische“ Szene allenfalls tausend Köpfe – und gaben nunmehr andere Metropolen den Takt vor, namentlich London und New York. „Paris, la nuit, c’est fini“ wurde zum Leitmotiv der Snobs. Erfolgsgeschichten wie jene der legendär gewordenen Diskotheken Le Palace zwischen 1978 und 1982 und Queen in den 1990er Jahren oder der weltweite Siegeszug der French Touch im selben Jahrzehnt straften die ewigen Nörgler indes Lügen. Und seit 2015 erleben die Pariser Nächte wieder einen markanten Aufschwung. Laut Kennern besitzt die Lichterstadt eine der aktivsten und inklusivsten Szenen Europas.
Diese ist nun akut bedroht durch die Corona-Krise. Seit dem 17. März 2020 hat eine Kette von Lockdowns und Ausgangssperren, einzig unterbrochen durch eine Verschnaufpause im Sommer, den Pariser Nächten das Licht gelöscht. Die letzten Ausgangsverbote in der Kapitale reichen in die dunklen Zeiten der deutschen Besatzung und des Algerienkriegs zurück. Wie sich die Verengung des Lebenskreises aufs Gemüt niederschlägt, verzeichnet etwa die jüngste Erhebung der staatlichen Gesundheitsagentur Santé publique France: Schlaflosigkeit, Angstzustände und Selbstmordgedanken nehmen stark zu. 22 Prozent der Französinnen und Franzosen nennen sich heute depressiv, 12 Prozentpunkte mehr als vor der Pandemie. „Le Monde“ veröffentlichte unlängst Zitate von Nachtschwärmern zwischen 20 und 72 Jahren, die bewegend in Worte fassen, was ihnen fehlt: das Verführen und Verführtwerden, die Begegnung mit dem Unbekannten, das Loslassen und Aus-Sich-Heraustreten, die Ekstase des Tanzes, das herzklopfende Gefühl, (noch) jung und am Leben zu sein.
Doch gerade jene Lokale, die derlei Erfahrungen zu bieten vermögen, sehen kein Licht am Ende des Tunnels. Am 28. April hat Emmanuel Macron einen Zeitplan für die schrittweise Aufhebung der Beschränkungen bis Ende Juni vorgestellt. Kinos, Theater, Museen und Restaurants, später dann Fitnessstudios sowie Stadien und Messehallen dürfen unter Auflagen wiedereröffnen. Die einzigen, denen jede Perspektive fehlt, sind die Nachtklubs und Diskotheken. Sie bleiben weiterhin geschlossen, auf unbestimmte Zeit. Trotz vergleichsweise großzügigen Staatshilfen haben seit März 2020 im ganzen Land hundertfünfzig von ihnen dichtgemacht. Die Nachtschwärmer, frustriert über den Mangel an Zukunftsaussichten, trotzen immer häufiger dem Versammlungsverbot für mehr als zehn Personen. In Privatwohnungen oder öffentlichen Parks feiern sie „wilde“ Feste beziehungsweise Free Parties. „Lasst uns tanzen, in Freiheit singen“, jaulen sie mit Dalida von den Balkonen herab. Doch ihre Rufe verhallen in menschenleeren Straßen.
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