Wie der Israel-Palästina-Konflikt auf Frankreichs Hochschulen und Universitäten übergreift
Nach dem Hamas-Massaker an über 1160 Menschen in Israel am 7. Oktober 2023 haben sich auch in Frankreichs Universitäten und Hochschulen die Spannungen verschärft. Auf Campussen tauchten antisemitische Schmierereien auf, etwa in Rennes, Paris, Poitiers und Straßburg. Hier und da ertönten Aufrufe zur Vernichtung Israels. Antikapitalistische und dekolonialistische Aktivisten stellten den wiederaufgeflammten Israel-Palästina-Konflikt in den Dienst ihrer Sache, oft ohne Sachkenntnis noch Verständnis für das Konzept der Ausdrucksfreiheit. Sie selbst wollen alles sagen dürfen, verbieten aber Widerrednern den Mund.
Für Aufregung sorgte Mitte März ein Vorfall an der Pariser Elite-Hochschule Sciences Po. Es gibt divergierende Schilderungen des Ereignishergangs; fest steht, dass eine jüdische Studentin einer Veranstaltung in einem von propalästinensischen Kommilitonen besetzten Hörsaal beiwohnen wollte. Wurde ihr der Eintritt verwehrt, mit den Worten „Lasst sie nicht rein: Sie ist eine Zionistin“? Oder verließ sie den Saal von sich aus, weil Anwesende, die sie von früheren Zusammenstößen her kannten, andere warnten, sie werde ihre Gesichter filmen und im Netz zeigen – wo die Bilder dann gern von rechtsextremen Medien wie dem Fernsehsender CNews aufgegriffen werden, um Sciences Po-Studenten als Antisemiten und Hamas-Anhänger zu zeichnen?
Rechte Politiker nutzten jedenfalls die Gelegenheit, um den „frenetischen Aktivismus“ an Frankreichs höheren Bildungsstätten zu geißeln: Diese drohten zu „islamistisch-linkssektiererischen Bunkern“ zu entarten. Premierminister Gabriel Attal erschien gar ungebeten an einer Sitzung des Verwaltungsrats von Sciences Po, las den Anwesenden die Leviten und deutete an, der Staat werde, wo nötig, die Kontrolle übernehmen. In der Wissenschaftsgemeinde, die auf ihre akademische Freiheit pocht, wurde der Auftritt mit Unmut aufgenommen. Wollte man die Fronten bewusst verhärten, man ginge nicht anders vor.
Am 24. April errichteten dann ein paar Dutzend Studenten im Innenhof eines Nebencampusses von Sciences Po ein Zeltlager. Dieses wurde noch in derselben Nacht durch Bereitschaftspolizisten aufgelöst, die der erst seit einem Monat amtierende Interimsverwalter Jean Bassères gerufen hatte (der reguläre Direktor musste im März den Sessel räumen: Er steht wegen häuslicher Gewalt vor Gericht). Dass Ordnungskräfte eine höhere Lehranstalt betreten, stellt in Frankreich die absolute Ausnahme dar – die Tradition der franchise universitaire will, dass Universitäten und Hochschulen bis auf Fälle akuter Bedrohung selbst für ihre innere Ordnung sorgen. Abermals große Aufregung, Verschärfung der Polarisierung.
Wenig überraschend, besetzten daraufhin fünf Dutzend Studenten den Hauptcampus. Bassères änderte die Strategie: Im Gegenzug für die Aufhebung eines Teils der laufenden Disziplinarverfahren (laut Rechtspopulisten eine „Kapitulation") handelte er das Versprechen aus, der Lehrbetrieb werde nicht mehr gestört. Siehe da: die Blockade löste sich in Luft auf. Bei einem Augenschein am Dienstag waren vor dem Haupteingang Rue Saint-Guillaume lediglich die üblichen Wächter zu sehen. Acht Studenten, beim Verlassen des Gebäudes angesprochen, bezeugten wenig Interesse für „diese Geschichten“. Einer von ihnen, der bezeichnenderweise seinen Namen nicht geben wollte, artikulierte seinen Ärger über „diese Blödmänner“ – und seine Hoffnung, die am Montag beginnenden Jahresabschlussprüfungen könnten reibungslos ablaufen.
Ende gut, alles gut? Nichts ist weniger sicher. Erstens findet heute Vormittag, während diese Zeilen geschrieben werden, eine von der Direktion anberaumte town hall zum Israel-Palästina-Konflikt statt: Eine Diskussionsrunde nach US-amerikanischem Vorbild, bei der alle Parteien alle Themen aufs Tapet bringen. Solche Unternehmen geraten gern aus den Gleisen. Zweitens sind die Spannungen – wie jenseits des Atlantiks, wenngleich (noch?) nicht mit derselben Virulenz – auf etliche Institutionen übergesprungen. Zuerst auf die Mehrzahl der regionalen Campusse von Sciences Po. Dann auch auf Universitäten, etwa jene in Dijon, Grenoble, Lille, Lyon und Rennes. Und sogar auf die altehrwürdige Sorbonne, von wo ein paar Dutzend Protestierende Anfang der Woche durch Polizisten verjagt wurden – wie auch von der Universität von Saint-Etienne. Das wiederholte Entsenden von Ordnungskräften ins Innere von Lehranstalten zeigt, dass die Regierung auf demonstratives Durchgreifen setzt. Und hier liegt, drittens, die größte Gefahr: In der Instrumentalisierung einer Protestbewegung, die bis jetzt ohne Gewalt gegen Personen noch Sachbeschädigungen verlaufen ist, zum Profilierungsmittel für Politiker. Vertreter der linkspopulistischen Partei La France insoumise inszenieren so gern ihre Nähe zu propalästinensischen Studenten, derweil Repräsentanten der bürgerlichen Präsidentenpartei sich mit Blick auf die baldigen Europawahlen wider „islamistisch-linkssektiererische Randalierer“ in die Postur des Garanten für Recht und Ordnung werfen.
Leidtragende einer etwaigen Verschärfung der Spannungen wären die überwältigende Mehrheit der Studenten, die das grauenvolle Massaker der Hamas ebenso sehr schockieren dürfte wie die horrende Zahl der zivilen Opfer der laufenden israelischen Militäroperation – und die sich offen zeigen für Diskussionen und Gedankenaustausch, solang sie ungestört studieren können.
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