Frankreichs „kulturelle Olympiade“ bewegt Herz und Hirn – eine Auswahl von Veranstaltungen und Ausstellungen zu den Sommerspielen
Anfang Mai schrieb „Le Monde“, die Organisatoren der Olympischen Spiele hofften, der Fackellauf auf französischem Territorium möge – endlich! – die mangelnde Begeisterung der Landesbewohner entfachen. Nichts ist weniger gewiss. Von 45 Kommentatoren online verteidigte ein einziger das Sportereignis. Fast alle anderen riefen zum „Boykott“ der „gigantischen umweltverschmutzenden Werbekampagne für Handelskettenprodukte“ auf: Diese erzeuge in ihnen bloß „Wut“, „Furcht“ beziehungsweise „Hass“.
Pariser lehnen die Olympiade noch stärker ab als der Rest von Frankreichs Bevölkerung. In einer Umfrage vom 8. Mai bezeugten 37 Prozent von ihnen Indifferenz gegenüber dem Großereignis, 36 Prozent Skepsis – und nur 26 Prozent Enthusiasmus. Gewiss: Alles und jedes schlechtzumachen, liegt in ihrer Natur. „J’aime rien, je suis Parisien“ lautet der inoffizielle Wahlspruch der Bewohner der Lichterstadt. Die Negativität der New Yorker ist nervöser, jene der Berliner brutaler, aber Pariser hassen mit perfidem Perfektionismus.
Eines indes lässt ihr Herz höher schlagen und ihr Hirn bunter träumen: in originelle Formen gegossene Erfindungen der Fantasie. Warum also nicht die ungeliebte Olympiade mit der innig geliebten Kultur verbinden? „Olympiade culturelle“ heißt – wenig originell – das schöngeistige Begleitprogramm zum Turnier der Waden und Bizepse. Eine etwas schlampig gemachte Website verzeichnet knapp 700 Veranstaltungen in Frankreich und in der Restwelt, die das entsprechende blauweiße Etikett erhalten haben; über 500 davon finden sich im hauptstädtischen Raum. Auch wenn die Zahlen gedopt sind (etliche Initiativen werden mehrfach aufgeführt): Die Pariser können sich heuer an Hunderten von Kulturveranstaltungen mit Sportbezug schadlos halten für all die Unbill, die sie von der Olympiade erwarten – inflationäre Krämpfe, Lähmungen der Zirkulation, soziale und ökologische Attacken sowie den zu befürchtenden Kollaps des schon seit Monaten an Synkopen krankenden Metrosystems.
Stellen wir im raschen Überflug die wichtigsten Kategorien der kulturellen Olympiade vor. Altehrwürdige Institutionen beugen sich mit ernstzerfurchter Stirn über das Thema: Das Collège de France organisiert sieben „Dialoge zwischen Wissenschaft und Sport“, die Bibliothèque nationale de France Lesungen einschlägiger Texte durch Schauspieler und Schüler, die Sorbonne einen – neufranzösisch – „Massive Open Online Course“ zu den Langzeitfolgen der Pariser Spiele.
Eine zweite Kategorie setzt auf soziales Engagement: Die Nationalbibliothek entwirft eine Geschichte des Frauensports, die Deutschlandstiftung – Heinrich-Heine-Haus befasst sich mit Fragen der Diversität und des Empowerment im Fußball, zwei Bühnenwerke, „Olympe X – Double Je(ux)“ und „La Victoire de Karima“, thematisieren Homosexualität beziehungsweise Frauenemanzipation im Sport.
Schier unüberschaubar ist drittens die Fülle an Darbietungen, die Kunst und Sport hybridisieren. Nennen wir als Beispiele einen Voguing-Ball im Parc des Princes, „poetische Spiele“ unter der doppelten Schirmherrschaft des Dichters Alain Mabanckou und der mehrfachen Langsprint-Olympiasiegerin Marie-José Pérec sowie eine Produktion von Vivaldis Oper „L’Olimpiade“ am Théâtre des Champs-Élysées, in welcher der Countertenor Jakub Józef Orliński auch als Breakdancer brillieren soll.
Eine vorletzte Kategorie ist aus Kulturhauptstadt- und ähnlichen Potpourri-Programmen bekannt: Sie vereint disparate Veranstaltungen, von denen man bei bestem Willen nicht versteht, wie sie zum betreffenden Label gekommen sind. Im vorliegenden Fall etwa ein Transvestitenkabarett, eine Mischung aus Food Tour und Schnitzeljagd, ein Duoabend für Klavier und koreanische Brettzither sowie eine Seefahrt, bei der ein Erzähler via Kopfhörer Ibsens „Peer Gynt“ nachfabuliert, derweil Musiker live Elektroakustisches beisteuern.
Bleibt das Hauptstück des Programms: die Schar der Ausstellungen. Etliche eröffnen erst im Juni oder Juli, aber die – zumindest auf dem Papier – interessantesten sind schon diesen Monat zu besichtigen. Eine erste Sorte möchte man als „Kuckucksküken“ bezeichnen. Kleine, eine Spur parasitäre Schauen mit nur wenigen Stücken aus der Haussammlung, präsentiert nicht in eigenen Räumlichkeiten, sondern gemischt unter die Exponate der Dauerausstellung. Das Asienmuseum Cernuschi wird so im Sommer elf Werke zum Thema „Reitkunst im alten China“ zeigen; der Petit Palais hat unlängst in seinen Sälen fünfzig Malereien, Skulpturen und Kunstgegenstände mit dem Etikett „Körper in Bewegung“ versehen. Siebzig Stücke sind es im Stadtgeschichtemuseum Carnavalet – doch bis auf ein Ensemble zu Ringkämpfen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts so verstreut über Dutzende von Sälen, dass die Initiative selbst intern fast unbemerkt bleibt. Drei junge Saalwächter im Erdgeschoss wissen nichts von den olympischen Exponaten und empfehlen, die „Älteren“ im Obergeschoss zu fragen. Diese sind sehr bemüht, doch ähnlich ratlos. Der Besuch der drei Museen lohnt unbedingt – doch nicht um der Olympiade-Küken willen, sondern wegen der Dauerausstellungen.
Eine zweite Sorte von Schau verfügt über separate Räumlichkeiten (auch wenn es manchmal bloß ein einziger Saal ist), zeigt neben Stücken aus der eigenen Kollektion meist auch Leihgaben, ist jedoch inhaltlich klar an den Gegenstand des jeweiligen Hauses gebunden. Die Monnaie de Paris etwa wird heuer die Siegermünzen prägen – wie schon bei den Pariser Olympiaden von 1924 und 1900 sowie den Winterspielen in Chamonix, Grenoble und Albertville, aber auch bei den allerersten neuzeitlichen Spielen, die der Franzose Pierre de Coubertin 1896 in Athen ins Leben rief. Letztere verzichteten auf Gold: Es gab seinerzeit nur einen ersten und einen zweiten Platz, Silber und Bronze, Oliven- und Lorbeerkranz. Die Schau zeigt Diplome (erfrischend unakademisch jenes des Nieuwe-Kunst-Schöpfers Chris van der Hoef für die Amsterdamer Olympiade 1928), Trophäen und andere Auszeichnungen. Vor allem jedoch – wir sind in einer Münzprägeanstalt – Medaillen. Jene für die Teilnahme an den Spielen von Mexiko 1968 haftet in der Erinnerung: Sie ist quadratisch, rotgoldfarben und gemahnt mit den Piktogrammen von zwanzig Disziplinen an eine fremde Bilderschrifttafel.
Das Musée de la Légion d’honneur zeichnet neben der Geschichte der Medaillen auch jene der Flammen, Kronen, Hymnen, Fahnen und Maskotten nach. Lehrreich, aber trocken – wäre da nicht der finale Fokus auf elf französische Olympiapreisträger, die mittels Fotos, Kurzbiografien, aber auch Sportkleidern wie Kimonos, Bademützen oder Rugbytrikots ganz persönlich porträtiert werden.
An der Schnittstelle von Archäologie, Ikonographie und Philologie angesiedelt ist eine Schau im Louvre. Sie führt vor, wie die Bild- und Symbolwelt der ersten Olympiaden maßgeblich durch die altgriechischen Sammlungen des größten Museums der Welt geprägt wurde. Frankophone Künstler und Konservatoren, die zwischen Paris und Athen vermittelten, ließen sich von antiken Vasenmalereien, Skulpturen und sogar Bauwerken wie der Akropolis inspirieren, um den neuen Spielen das visuelle Gepräge der alten zu geben. Wer gern Tetradrachmen mit den ihnen nachempfundenen Briefmarken vergleicht, dürfte hier von Verzückung zu Ekstase taumeln.
Äußerlich karger, aber innerlich bewegender ist eine Schau im Musée de la Libération de Paris. Zwanzig Schwarzweißfotos an einer Wand in einem Konferenzraum, dazu je ein fünf bis acht Zeilen kurzer Text: Knapper geht es nicht. Aber die Bilder zeigen Sportlerinnen und Sportler, die in der Résistance kämpften – und oft für das freie Frankreich ihr Leben ließen. Die Reibung zwischen den harmlosen Schnappschüssen – junge Leute auf dem Fußballfeld oder Tennisplatz, am Steuer eines Fahrrads oder Rennwagens –, dem dramatischen, oftmals gar tragischen Hintergrund und den in ihrer Lakonik schier pietätlos unpathetischen Kurzbiografien rührt etwas an im Betrachter. Etwa die Foto eines markigen Apolls mit der Legende: „Ein Kunstschreiner, Frankreichmeister im Hochsprung und vor allem Urheber meisterhafter Sabotageakte in der Auvergne. Am 2. März 1944 sieht man, wie Deutsche ihn in Vichy ohnmächtig in einen Wagen hieven. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Camille Leclanché. Zweiundzwanzig Jahre.“
Auch Künstlerhäuser knüpfen Bande zur Olympiade. So die Maison de Balzac mit Stichen des 19. Jahrhunderts zum Thema „Sport“ und die Maison Victor Hugo mit einer Schau über den Dichter als Liebhaber der Fechtkunst. Doch es ist kein Künstler-, sondern ein Politikerhaus, das die „persönlichste“ Schau zur Olympiade ausrichtet. Das Musée Clémenceau nimmt in einer Dossierausstellung die sportlichen Aktivitäten des zweimaligen französischen Regierungschefs unter die Lupe. Kunstliebhabern womöglich besser bekannt als ein Busenfreund Monets – der ihn „mein altes Herzchen“ rief –, war Georges Clémenceau ein gestandener sportsman. Angelsächsische Exporte wie Tennis oder Golf verschmähte er zugunsten von Jagd (bei der ersten Pariser Olympiade fand ein Wettschießen auf lebende Tauben statt!), Reiten, Fechten und Radfahren. Gymnastik betrieb der „Tiger“ bis ins hohe Alter hinein täglich, wie ein ausgestellter Expander aus seinem neunten Lebensjahrzehnt bezeugt. So erwarb er Selbstsicherheit und Geschmeidigkeit, um ein Dutzend Duelle unversehrt zu überstehen.
„Duels“ lautet auch der Titel einer reichbestückten Schau im Musée de l'Armée. Sie schlägt einen Bogen von den mythischen Zweikämpfen der Antike über die Gerichtskämpfe des Mittelalters und die Ehrenduelle der Neuzeit bis zur heutigen Fechtkunst. Initiationsrituale in nichtwestlichen Kulturen werden dabei ebenso beleuchtet wie die (nicht nur juristische) Reglementierung der Duelle, ihre Darstellung in Kunst und Literatur sowie praktische Aspekte wie die Wahl der Waffen. Den Parcours säumen fünf „Guckkästen“ mit lebensgroßen Figuren vor Bob-Wilson-Leuchthintergrund, die legendäre Zweikämpfe nachstellen. Etwa jenen zwischen den Samurai Musashi und Kojirō 1612 oder, am Ende desselben Jahrhunderts, das Duell zwischen einem französischen Fürstensohn und einer Abenteurerin in Männerkleidern. Letzteres endete mit einer leichten Verletzung – und mit einer längeren Liaison. In „Duels“ geht es ums Kämpfen mit Waffen: die Kernthematik eines Armeemuseums. Doch weitet die Schau den Fokus so stark, dass man sie sich auch in einer anderen Art von Museum vorstellen könnte, etwa einem ethnografischen.
Womit wir bei der dritten und letzten Sorte von Ausstellungen angelangt wären: jenen, die sich durch ihren Umfang und ihren hohen Grad an Allgemeinheit von der – relativen – Überschaubarkeit und Spezialisierung der vorgenannten abheben. Das Musée Marmottan vereint so 160 Werke und Dokumente zum Sport in der Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Pferderennen von Degas und Toulouse-Lautrec, wie zu erwarten, aber auch köstliche Karikaturen von Daumier, gruslige Seebadszenen von Rops und kubistische Rugbyspiele von Lhote. Es sind gerade die unbekannteren Arbeiten – George Bellows‘ Gemälde von Boxkämpfen, Pierre Gatiers Farbradierungen von Wintersportlern, Georges Demenÿs Chronofotografien von Fechtern –, die durch Originalität, bisweilen auch Skurrilität bestechen. Clou der Schau ist Courbets unbeschreibliche „Femme au podoscaphe“: das – wohl nicht von Ungefähr unvollendete – Ölbild einer langhaarigen Nereide, die auf einer Art segellosem Katamaran über den Ozean paddelt wie eine wildwogende Walküre.
Völlig verschieden in Thematik und Faktur, aber ähnlich fesselnd ist eine Schau im Mémorial de la Shoah. Sie deutet die olympischen Spiele als Spiegel der jeweiligen Gesellschaften. Und ist repräsentativ für die Ausstellungen der Gedenkstätte, in denen der didaktische, oft kritische Diskurs wichtiger ist als die Exponate an sich – häufig „bloß“ Faksimiles von Fotos und Schriftdokumenten. Bild- und beispielreich wird hier gezeigt, wie Olympiaden Plattformen für die Propagierung von Werten und Ideen bilden, im Guten wie im Schlechten. Sie können die Trugbilder totalitärer Regimes in die Welt tragen oder Terrorakten zu größtmöglicher Resonanz verhelfen; aber auch zum Kampf gegen Segregation aufrufen – wofür exemplarisch die Spiele von Berlin 1936, München 1972 und Mexiko 1968 stehen. Doping (nicht nur im ehemaligen Ostblock), die Zweckentfremdung von Stadien als Internierungslager und die Instrumentalisierung von Sportlern zu Vektoren nichtfreiheitlicher Unwerte sind Facetten der Schattenseite der olympischen Bewegung.
Zu diesen zählen auch die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Schäden, die schlecht organisierte Spiele verursachen, fügt eine Ausstellung im Musée de l’histoire de l’immigration hinzu. Sie bietet den vollständigsten Überblick über die Geschichte der Olympiaden, besteht der Parcours doch aus Wandtafeln mit Vitrinen zu jeder einzelnen Ausgabe zwischen 1896 und 2008. Und zwar jeweils nach demselben Muster: Ein Stadtname, eine Jahreszahl, das betreffende offizielle Plakat (soweit vorhanden), rund fünfzehn einführende Zeilen nebst Statistiken sowie weiterführende Texte und Exponate. Das könnte rasch positivistisch anmuten, läge der Fokus nicht entschieden auf politischen und mehr noch gesellschaftlichen Aspekten. Zugespitzt formuliert, lernt man hier alles, was an der olympischen Bewegung zu interessieren vermag, wenn man für Sport nichts übrig hat. Nämlich: wie Olympiaden Progressives und Reaktionäres befördern, Geopolitik und Mentalitätsgeschichte mengen, immer wieder auch Ableger hervorbringen, von den Spartakiaden der 1930er Jahre über die 1968 ins Leben gerufenen Special Olympics bis zu den 1982 inaugurierten Gay Games. Der wie ein farbenfrohes Wissensquiz aufgemachten Schau eignet etwas im guten Sinne Spielerisch-Enzyklopädisches.
Zum Schluss eine Attraktion für Geeks und Daniel Düsentriebe. „Match“ im Musée du Luxembourg präsentiert Designprodukte, die Sportler besser machen. Besser als Erbringer körperlicher und geistiger Höchstleistungen, aber auch besser als vollintegrierte Mitglieder der Gesellschaft. Das reicht von Proteingetränken über inklusive Piktogramme bis zu der 2016 bei den olympischen Spielen von Rio de Janeiro vorgestellten Fahne für Vertreter der „Flüchtlingsnation“. Vom Hermès-Springreitsattel aus Kalbs- und Vachetteleder über Knieknorpelimplantate aus dem Bioprinter bis zu Freeride-Skiern aus Titanal. Und vom Verfassen einprägsamer Schlagzeilen (unsere liebste auf einer Riesenwand voller Leseköder: „Pope To Soccer Fans: ‚Stop Being Racist‘“) bis zum Erfinden neuer Sportarten wie Drohnenwettfliegen, Parkour (fließende Fortbewegung über Mauern und Dächer im Stadtraum hinweg) oder World Chase Tag (Katz und Maus in einer quadratischen Spielfläche voller Hindernisse). Das Ganze smart entworfen und slick gestaltet durch Konstantin Grcic – eine Messe der Innovationen mit dem Vibe eines Concept-Stores.
Für die Sportverächter und Spiele-Verspotter unter den perfiden Parisern bildet die „Olympiade culturelle“ das ideale Gegenprogramm zum Turnier der Waden und Bizepse. Hier werden primär Herz und Hirn bewegt.
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