Der Hangar Y, eine umgenutzte Zeppelinhalle bei Paris, will einem breiten Publikum Kunst näherbringen – ohne Pedanterie. Die Eröffnungsausstellung beleuchtet das Thema „Flugmaschinen“.
Die Banlieue lebt! Das Flickwerk von armen und reichen, proletarischen und großbürgerlichen Vororten, das Paris – eine flächenmäßig kleine Metropole – umgibt, zehrt von der kulturellen Dynamik der Kapitale. Und führt dieser umgekehrt Nährstoff zu in Form alternativer Orte, für die innerhalb des Boulevard périphérique, der Ringstraße um die Lichterstadt, schlicht der Raum fehlt. Jüngste Perle in der Kultur-Kette um den zentralen Riesensolitär ist der Ende März eröffnete Hangar Y in Meudon. Liebhabern der Skulptur und/oder Literatur mag das bewaldete Städtchen südwestlich von Paris ein Begriff sein: Rodin und Céline verbrachten hier ihren Lebensabend und sind vor Ort begraben.
Wie sein Name besagt, ist der Hangar Y eine ehemalige Flugzeughalle. Genauer: eine Zeppelinhalle, die erste weltweit. Erbaut wurde diese 1879 aus Versatzstücken der Galerie des machines der im Vorjahr am Pariser Champ-de-Mars abgehaltenen Weltausstellung. Von diesem zeittypisch gigantischen Glasbau übernahm der Hangar Y die Dimensionen – siebzig Meter Länge für dreiundzwanzig Meter Höhe – und die Lichtfülle. Offen und hell ist die renovierte und behutsam modernisierte Halle heute erst recht. Ihre Hauptfront ist vom Boden bis zur Spitze des Satteldaches verglast, mit einem sehr edel wirkenden, im Durchblick nach Außen hochtransparenten Glas. Dessen filigrane Metalleinfassungen verweisen in zeitgenössischer Sprache auf die grazilen Eiffel-Tragestrukturen der warmbraunen Holzdächer über dem Hauptschiff und den beidseitigen Mezzaninen. Der neue Hangar Y wirkt weiträumig, aber nicht einschüchternd, funktional, aber nicht unbeseelt, modern, ohne seine Geschichte zu verleugnen.
Alles, was man über diese wissen will, erzählen einem lebensgroße 3D-Figuren, die auftauchen, sobald man einen am Eingang ausgehändigten Helm aufsetzt. Unter ihnen der Oberst Charles Renard, der als Gründer und Leiter der Zentralen Einrichtung für Militärluftfahrt in Meudon zusammen mit dem Infanteriehauptmann Arthur Krebs den Zeppelin „La France“ entwarf. In diesem flogen die beiden am 8. August 1884 erstmals in der Geschichte der Luftfahrt einen geschlossenen Kreislauf: Eine Strecke von acht Kilometern vom und zurück zum Hangar Y. Die Phantomfiguren sind eine Spur gruslig mit ihrem starren Lächeln und ihrer eckigen Gestik, aber ihre halbstündige Führung durch die Halle ist spannend. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg, bei dem 1870/71 über sechzig zum Teil bemannte Ballons dem belagerten Paris entflogen, entwarf und baute man in Meudon bis 1918 Beobachtungsballons und Zeppeline. Nach dem Sieg der Alliierten wurde der Hangar Y (der Buchstabe verweist mit typisch militärischem Einfallsreichtum auf die Bauparzelle) ein Luftfahrtmuseum, aus dem 1973 das Musée de l’Air et de l’Espace in Le Bourget hervorging.
Auf diese Geschichte bezieht sich die auf beiden Mezzaninen präsentierte Eröffnungsausstellung „Dans l’air, les machines volantes“. Sie versammelt über hundert Filme, Videos, Gemälde, Zeichnungen, Modelle, Dokumente und Installationen zum Thema „Flugmaschinen“, von Leonardo da Vincis Zeichnungen in einem Carnet aus den Jahren 1487 bis 1489 (zu sehen ist ein Faksimile) bis zu einer eigens für die Schau angefertigten Wandkomposition von Nelly Maurel aus drei Dutzend echten und gefälschten Dokumenten zum Luftfahrtpionier Alberto Santos-Dumont. Der Kuratorin, Marie-Laure Bernadac, war unlängst eine „Geschichte des Stilllebens“ im Louvre spektakulär aus dem Ruder gelaufen. Hier jedoch überwiegt ihre Stärke (das Zusammentragen von spannendem Material) bei weitem ihre Schwäche (das Unvermögen, stringent zu strukturieren).
So vereint die Schau in farbenfrohem Durcheinander das Pastell einer Eleganten mit Montgolfieren-Frisur des achtzehnten Jahrhunderts, das Modell eines „Monuments für die Aeronauten der Belagerung von Paris“ aus dem Jahr 1872, ein Ölgemälde des Luftfahrtmalers der Belle-Époque André Devambez, Arbeiten von Exponenten des Art brut wie Gustav Mesmer (genannt „der Ikarus vom Lautertal“), Überraschungen wie Léon Spilliaerts schier abstrakte Zeichnung einer Zeppelinhalle, einen „Airplane Teapot Chandelier“ aus Muranoglas von Laure Prouvost, allerlei Geflügeltes, Raketenförmiges oder mit Rotoren Versehenes sowie Klassiker wie Panamarenkos „poetische Konstruktionen“ zum Fliegen gedachter Apparate und Georges Méliès‘ Science-Fiction-Filmfantasie „Die Reise zum Mond“ aus dem Jahr 1902. Das Ganze erfreut das familiäre Wochenendpublikum ebenso sehr, wie es eingefleischte Kunstliebhaber bildet.
Um den Hangar Y herum findet man schwarzglänzend gekachelte Neubauten, deren Satteldächer auf jenes der ehemaligen Zeppelinhalle anspielen. Ein neun Hektare großer Park lockt mit einer von neunzehn Arbeiten namhafter Bildhauer gesäumten Promenade, die durch ein Unterholz an einem sechseckigen See vorbeiführt. Über diesen legte Frankreichs bedeutendster Landschaftsarchitekt André Le Nôtre 1680 eine grande perspective ideell hinweg: ein rasengrüner Bindestrich zwischen dem Schloss von Meudon und dem drei Kilometer entfernten Wald. Das Anwesen dürfte seinen Charme im Lauf der nächsten Monate entfalten, wenn Bäume und Böden begrünt sind.
Der Hangar Y ist das Produkt einer jener Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor, die vom anhaltenden Umbruch in Frankreichs Kulturwelt zeugen. „Der Staat hat dreitausend Milliarden Euro Schulden und kann Projekte wie dieses nicht tragen“, sagt Frédéric Jousset im Telefoninterview. „Der Hangar Y steht unter Denkmalschutz, zählt aber gleich Scharen von Kasernen, Kirchen und Cafés nicht zum Kern des Bauerbes der Nation.“ Jousset, Mitgründer von Webhelp, einem Outsourcing-Unternehmen mit einem Jahresumsatzumsatz von 2,5 Milliarden Euro (2022), hat dreißig Millionen Euro in die ehemalige Zeppelinhalle investiert. Sein Pachtvertrag mit dem Staat läuft bis 2053, erwartet werden jährlich eine Viertelmillion Besucher für den Park, das Atelier und den Hangar. Samstags und sonntags sind diese für das breite Publikum geöffnet, die Woche über werden sie für Seminare und Events vermietet. Ein partenariat public-privé, wie es im Buche steht.
„Ich wollte keine x-te Kunsthalle ins Leben rufen“, erklärt Jousset sein Projekt, „sondern einen Ort ohne Pedanterie, in den mehrere ‚Eingangsportale‘ hineinführen: ein Skatepark, ein Restaurant, Ateliers für Kinder... Und einen Ort, der die fünf Sinne anspricht: durch die Kunstwerke, die Düfte des Parks, die Skulpturen zum Anfassen, die durch den Sternechef Guillaume Sanchez ausgearbeiteten Speisen, demnächst auch durch Konzerte und – ab 2024 – Aufführungen der Tanzschule von Benjamin Millepied...“ Mit der künstlerischen Leitung des Hangar Y hat der Kulturmäzen seine 2020 gegründete Stiftung Art Explora betraut. Deren Verantwortliche werden eine der beiden jährlichen Ausstellung kuratieren, für die andere wird – gleich Marie-Laure Bernadac – eine auswärtige Koryphäe verpflichtet. Das Thema der nächsten Schau mag Jousset bereits verraten: „die Sonne“.
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