Verdinglichung nicht nur auf der Leinwand: Ein Erklärungsversuch für den systemischen Missbrauch in Frankreichs Filmwelt
Mit den schweren Anwürfen der Schauspielerin Judith Godrèche gegen die Regisseure Benoît Jacquot und Jacques Doillon hat die MeToo-Bewegung Frankreichs Filmwelt Anfang des Jahrs definitiv erfasst. Das Buch zum Thema liefert jetzt Geneviève Sellier, emeritierte Professorin für Filmstudien an der Université Bordeaux Montaigne. In ihrer Studie „Le Culte de l’auteur“ sucht die Betreiberin der feministischen Filmsite „Le Genre et l‘écran“ einen frischen, „durch Fragen nach Geschlecht, Klasse und Rasse informierten“ Blick auf den sogenannten Autorenfilm zu werfen. Diese genreübergreifende Kategorie von Spielfilmen wurde in Frankreich durch die Theoretiker der Nouvelle Vague definiert.
Französische Vertreter des film d‘auteur übernahmen vom Hollywood des goldenen Studiozeitalters den durch die britische Filmtheoretikerin Laura Mulvaney anhand namentlich von Arbeiten Alfred Hitchcocks und Josef von Sternbergs identifizierten male gaze, den vielbeschworenen dominierenden und voyeuristischen männlichen Blick. Doch während in Hollywood heute längst das große Reinemachen im Gang ist, sieht die Lage in Frankreich ganz anders aus. Woody Allen und Roman Polanski, die in den USA Autorenfilme gedreht haben, sind dort infolge schwerer (im Fall von Allen gerichtlich nicht verurteilter) Anwürfe längst Personae non gratae. In Frankreich werden sie nach wie vor geehrt und gefördert; der als Philosoph gehandelte Publizist Pascal Bruckner erklärte Polanski gar vor fünf Jahren zum dreifachen Opfer der Nazis im Krakauer Ghetto, der Stalinisten im Polen der Nachkriegszeit und des „feministischen McCarthyismus“ der Gegenwart (sic).
Warum ist das vermeintlich linke und progressive Autorenkino ein – so Sellier – „privilegierter Ort des Gewalt gegen Frauen“? Als Hauptgrund nennt die Autorin den „laizistischen Kult des Schöpfergenies“, eine Ideologie, die die Vertreter der Nouvelle Vague vom 19. Jahrhundert übernommen hätten. Gleich den Malern der Romantik sähen Louis Malle, François Truffaut und – paradigmatisch mit der Kindfrau Anna Karina – der frühe Jean-Luc Godard ihre Hauptdarstellerinnen als Musen an, als Objekte der Liebe, der Faszination oder auch des Hasses, die allein durch den männlichen Blick lebten. Wohingegen die Helden stets mit einem Eigenleben ausgestattet seien, einem oft durch innere Monologe ausgedrückten Bewusstsein.
Im Gefolge der sexuellen Befreiung ab den 1970er Jahren traten die Hauptdarstellerinnen immer textilärmer vor die Kamera, immer freizügiger – und immer jünger. Hier mischte sich Professionelles oft problematisch mit Privatem, besonders stoßend bei Benoît Jacquot, den frühere actrices principales wie die 25 Jahre jüngere Judith Godrèche oder die 35 Jahre jüngere Isild Le Besco heute des – nicht nur sexuellen – Missbrauchs bezichtigen. Der Regisseur bekannte in einem Dokumentarfilm 2011 selbst mit ruhigem Zynismus die Illegalität seiner Beziehung zu „diesem Mädchen, dieser Judith, die 15 Jahre alt war und ich 40“. „La Fille de 15 ans“, ein Film des ähnlicher Übergriffe beschuldigten Jacques Doillon, zeigt stellvertretend für viele andere, wie Regisseure auf der Leinwand die Realität verklären, wo nicht schlicht verdrehen: Ein junges Mädchen verführt da aktiv einen ungleich älteren Mann. Einher mit dieser Sublimierung von Straftaten geht ein hoher „Verschleiß“ neuer Gesichter und frischer Körper. Sellier nennt unter anderen Vahina Giocante, Sophie Guillemin und Valérie Kaprisky, die in recht jungen Jahren von den Bildschirmen verschwanden, müde, immer nur stark erotisierte (Nackt-)Rollen angeboten zu bekommen.
In den Fußstapfen der Pionierin Agnès Varda begannen Frauen in den 1970er Jahren Autorenfilme zu drehen. Nach mühsamen Anfängen liegt der weibliche Anteil an der Gesamtproduktion heute bei 25 Prozent. Das ist weit entfernt von der Parität – doch ein Phänomen von ähnlicher Breite gebe es laut Sellier in keinem anderen Filmland (Catherine Breillat, Dominique Cabrera, Catherine Corsini, Claire Denis, Valérie Donzelli, Pascale Ferran, Agnès Jaoui, Blandine Lenoir, Maïwenn, Tonie Marshall, Katell Quillévéré, Céline Sciamma, Alice Winocour, Justine Triet und Rebecca Zlotowski sind nur einige Cineastinnen, deren Schaffen auch international auf Resonanz stößt). Die Autorin streicht systemische Hürden heraus: das Budgetgefälle zwischen den Werken von Regisseurinnen und Regisseuren etwa oder die – neutral ausgedrückt – Unbeweglichkeit von Mastodonten wie der Cinémathèque française, der Filmfestspiele Cannes, eines Teils der spezialisierten Presse (wie der namentlich genannten „Cahiers du cinéma“). Sie zeigt aber auch auf, wie Filmemacherinnen den Blick auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern auffrischen und wie sie von Männern eher unterbelichtete Thematiken ausleuchten. Etwa: Pflegeberufe und Care-Ethik, das Altern (auch und insbesondere für Hauptdarstellerinnen), Mutterschaft (mitsamt Schattenseiten wie anonyme Geburt oder postpartale Stimmungskrisen).
Vieles an Selliers Buch reizt zum Widerspruch, nicht nur der apodiktische, anklägerische Tonfall. Doch legt das Werk den Finger klar auf einen wunden Punkt. Die Affären um Jacquot und Doillon haben ein System von Gewalt gegen Frauen aufgedeckt. Der Glaube an eine an Allmacht grenzende Schaffensfreiheit erlaube französischen Schöpfern, so Sellier, „sich unter dem Deckmantel der Inspirationssuche als Despoten zu gebaren, wo nicht gar als Pädokriminelle“. Die Verdinglichung von Frauen durch Männer, die sie zum Objekt der Bewunderung, der Begierde, auch des Missbrauchs machen, werde erst dann ein Ende finden, wenn jene sich eine Stellung als gleichberechtigte Koautorinnen des kollektiven Kunstwerks „Film“ erkämpft hätten – ob vor oder hinter der Kamera.
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