Ein Besuch im Château Rosa Bonheur bei Fontainebleau, wo die renommierteste Tiermalerin des neunzehnten Jahrhunderts ihre vier letzten Lebensjahrzehnte verbracht hat – im Grünen, mit vielen Tieren und zwei (weiblichen) Geliebten
Wie konnte eine solche Figur in Vergessenheit geraten? Rosa Bonheur (1822-1899) zählte zu den gefragtesten Malerinnen des neunzehnten Jahrhunderts. Sie war die erste Künstlerin, die mit der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde. Ihr Ruhm in Amerika war so groß, dass kleine Mädchen dort mit mondgesichtigen „Rosa Bonheur Dolls“ spielten. Königinnen, Kaiser und Buffalo Bill höchstselbst machten ihr die Aufwartung. Bonheur zählte zu den Pionierinnen der Fotografie, spezialisierte sich auf ein „männliches“ Genre – die Tiermalerei – und erwarb, unter ihren Zeitgenossinnen weit und breit allein, 1859 mit selbstverdientem Geld ein „Schloss“ bei Fontainebleau.
Wir schreiben das Wort hier in Anführungszeichen: Steht man davor, gleicht das „Château“ eher einer „Maison bourgeoise“, wie Anna Klumpke 1908 in ihrer Bonheur-Biografie befand. Ein dreistöckiges Bürgerhaus aus der Spätzeit des Ancien Régime: Ländlich-behaglich mit seinem roten Backsteindekor auf den crèmeweißen Fassaden unter dem Schieferdach, aber auch asymmetrisch (was in Frankreich bis heute kein Kompliment ist), verwinkelt und disparat. Ein Vermögen hat Bonheur für das in einem dreieinhalb Hektaren großen Park gelegene Anwesen nicht hingeblättert: Ein Viertel mehr als die – zugegebenermaßen nicht kleine – Summe, die ihr Londoner Galerist 1855 für das Monumentalgemälde „Le Marché aux chevaux“ gezahlt hatte (heute eine der Zierden des Metropolitan Museum in New York).
Dafür steckte die frischgebackene „Schloss“besitzerin sogleich Geld in eine massive Aufstockung des Dienstbotenflügels, über dem sie ein voluminöses Atelier mitsamt kleinem Nebensalon und Skizzen-Reserve erbauen ließ. Es sind diese drei Räume, die heute den Kern einer anderthalbstündigen Führung bilden. Das ist bescheiden und zugleich kostbar: Wie nur selten in einem Künstlerhaus befinden sich die beiden erstgenannten Interieurs fast exakt noch im Originalzustand. Keine Saaltexte oder Informationsschildchen, keine Vitrinen oder feinjustierten Spots – ohne jedes museale Dispositiv wirken sie so, als sei die Künstlerin eben gerade ihre Tiere im Park füttern gegangen. Im Atelier liegen sogar noch ein Hut, eine Bluse und Stiefelchen auf einem Sessel!
Selten auch, dass man als Teil einer rund zwanzigköpfigen Besuchergruppe frei durch einen möblierten Saal flanieren kann, vorbei an einem Fauteuil, auf dem ein Präsident gesessen, und einem Schreibtisch, auf den eine Kaiserin sich gelehnt hat – ohne jede Abgrenzung, ohne jegliches Glas zwischen sich und den, wie soll man sagen: Exponaten? Memorabilia? Gebrauchsgegenständen? In einem Eck mutet das kleine Fotolabor – eines der drei ältesten weltweit erhaltenen – gebrauchsbereit an; auf einer Palette liegen noch halb ausgedrückte Farbtuben; ein Blick in den puppenhaften Nebensalon offenbart gar liegengelassene Zigarettenstummel!
Das Interessanteste am Atelier sind indes die Werke – und die Tiere. Erstere zeigen zumeist Letztere: Pferde und Hunde, Rinder und Ziegen, aber auch Bisons und Löwen – Bonheur war die renommierteste Tiermalerin ihrer Zeit. Einige der Modelle sind leibhaftig präsent: Das Fell der Löwin Fathma, der Kopf der Stute Margot sowie die ausgestopften Körper des Nilkrokodils Patrocle und des Aras Coco zieren Wände, Möbel und Boden. Neben ihnen finden sich taxidermierte Enten und Reiher, Füchse und Wiesel, Fasane und Widder, Greifvögel und Wildschweine – die „Schloss“menagerie zählte bis zu zweihundert Köpfe. Mit ihrer Naturliebe war Bonheur, die Paris auf der Höhe ihres Ruhms verließ, um die letzten vier Lebensjahrzehnte im Grünen zu verbringen, einst eine Pionierin. Dass sie statt Menschen lieber Tiere malte und diese gern mit einem seelenvollen Blick versah, bildete im anthropozentrischen neunzehnten Jahrhundert eine sanfte Provokation. Doch blieb diese ob der virtuos-lebensechten Faktur der oft monumentalen Gemälde weitgehend unbemerkt.
Auch in ihrer Lebensführung war Bonheur eine leise Revolutionärin. Statt große Reden zu schwingen, lebte sie im Stillen so, wie es ihr behagte. Eine Feministin in Taten, nicht in Worten. Mit ihrer Jugendfreundin Nathalie Micas, mit der sie schon in Paris zehn Jahre lang zusammengewohnt hatte, siedelte sie 1860 ins frischerworbene Land“schloss“ über. Micas assistierte hier ihrer künstlerischen Arbeit, pauste zum Beispiel Zeichnungen ab, um sie auf Leinwände zu übertragen. Nach dem Tod der Freundin 1889 hörte Bonheur auf zu malen, ja verließ nicht einmal mehr das Haus. Einzig der Briefwechsel mit einer vierunddreißig Jahre jüngeren Künstlerin, Anna Klumpke, riss sie aus ihrer Depression. Ein Jahr vor Bonheurs Tod zog die Amerikanerin deutscher Herkunft bei ihr ein. Bis heute wird diskutiert, ob und inwieweit Bonheur homosexuell war. Was aus Briefen und anderen Zeugnissen klar hervorgeht, ist, dass sie mit Micas und Klumpke eine Liebesbeziehung hatte – ob platonisch oder nicht. Ihre Hinneigung zur Amerikanerin wurde ihr indirekt sogar zum Verhängnis: Bei einem Besuch des im Bau befindlichen neuen Ateliers, das sie unweit des „Schlosses“ für Klumpke errichten ließ, holte sich Bonheur die Lungenstauung, der sie am 25. Mai 1899 erlag.
Ihre Freundin und Alleinerbin leerte im Folgejahr die Schränke der Skizzen-Reserve und ließ alle darin aufbewahrten 4700 Arbeiten versteigern. Mit der einen Hälfte des Erlöses stopfte sie den Bonheurs den Rachen (aus Geldgier hatten diese das Testament angefochten und gemeine Gerüchte über Klumpke gestreut); mit der anderen suchte sie möglichst viele Werke zurückzukaufen. Bis zu ihrem Tod 1942 setzte sie sich selbstlos für Bonheurs Oeuvre ein – was ihr der französische Staat 1924 mit der Verleihung der Ehrenlegion dankte. Die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in „Château Rosa Bonheur“ umgetaufte „Maison bourgeoise“ empfing als Künstlerhaus periodisch Besucher, zuletzt seit 1982, als Klumpkes Erben das Atelier für insgesamt sechs Stunden pro Woche öffneten.
Frischer Wind weht seit 2017, als Katherine Brault das Anwesen erworben hat. Die in Fontainebleau geborene Unternehmerin hat mit täglich mindestens sechs Rundgängen an fünf Tagen pro Woche einen regulären Besuchsbetrieb eingeführt. Sie veranstaltet Konzerte und Ausstellungen – zurzeit eine Blütenlese von Klumpkes mit schwärmerischem Pinselstrich und ätherischer Farbpalette gemalten Blumenmädchen im Park und in der Orangerie –, hat einen qualitativ hochwertigen Teesalon eröffnet und drei Räume in der Beletage als Gästezimmer hergerichtet. Für dreihundertfünfzig Euro kann man hier eine Nacht in Bonheurs geschmackvoll restituiertem Schlafzimmer verbringen: ein köstliches Kleinod in Altrot und Crèmeweiß, wie heiße Himbeeren mit Schlagsahne. Brault leitet den Betrieb mit ihren drei Töchtern, drei Viertel der rund zwanzig Mitarbeiter sind weiblich. Eine Frauensache also, wie schon seinerzeit. Oder soll man besser sagen: ihrerzeit?
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