Zum Auftakt des Festival d’Avignon, der größten Theaterfestspiele der Welt
„Foreigners Everywhere“ lautet der Titel des ersten Exponats der gewohnt hochkarätigen Sommerausstellung der Collection Lambert, in Avignon die erste Adresse für heutige Kunst. „Ausländer überall“ könnte auch der Wahlspruch dieses dramatischen Sommeranfangs in Frankreich sein. Eine böse braune Bewegung wendet die Losung ins Negative und träufelt sie als zersetzendes Gift ins Ohr der Stimmbürgerinnen und -bürger – ein gutes Drittel von ihnen hat sie inzwischen verhetzt. Das Festival d’Avignon feiert seinerseits den völkerverbindenden Freiheitsraum, den fremde Sprachen in einer zunehmend in verfeindete Bastionen unterteilten Welt bilden. Die größten Theaterfestspiele der Welt erküren für ihre 78. Ausgabe das spanische Idiom zur langue invitée.
So ertönt ein Drittel der heuer 35 Produktionen des In-Festivals in der Sprache von Calderón, mit Übertiteln in jenen von Molière und Shakespeare. Darunter die Eröffnungsproduktion im Ehrenhof des Papstpalasts, „DÄMON. El funeral de Bergman“ von und mit Angélica Liddell. Ein grotesk misslungener Auftakt, der den Ungeist der Zeit bedient. Schon in den ersten Minuten liest die Schauspielerin, deren Markenzeichen ein Dauerzustand maschinengewehrhaft ratternder Raserei ist, aus einem Halbdutzend in Frankreich erschienener negativer Rezensionen eigener Produktionen vor, nennt deren Autoren mit Namen und pickt mit kindischer Häme auf ihnen herum. Das nährt denselben dumpfen Antiintellektualismus, wie ihn die böse braune Bewegung pflegt, die neben Soziologen, Historikern, Menschenrechtlern und weiteren Denkarbeitern bevorzugt Journalisten ins Visier nimmt.
Eine Kritik der Kritiker, mit Witz und Verve formuliert, nähme die Zunft wohl mit schadenfrohem Schmunzeln auf. Aber Liddell wählt Rezensionen, die vor dem Hintergrund dessen, was sie selbst den Zuschauern bietet beziehungsweise zumutet, inhaltlich nachvollziehbar scheinen und formal gemäßigt. Ein Journalist schreibt etwa: „Wie üblich steht die Figur der Schauspielerin im Zentrum der Bühne. Den größten Teil der Aufführung brüllt sie lange Monologe, die wie peremptorische Lektionen klingen. Sie schreit ihr Unglücklichsein heraus, ihre Trauer darüber, dass sie nicht geliebt, ja nicht einmal gehasst wird. Sie spielt wie eh und je die Karte der Ungeliebten aus, obwohl sie heute von einem fanatischen Publikum verehrt wird.“ Eine Kollegin doppelt nach: „Wann endlich wird Angélica Liddell aufwachen? Wann wird sie die angemessene Form finden, um ihr Leid auszudrücken? Vermutlich dann, wenn sie darauf verzichtet, die offizielle Künstlerin eines weiten europäischen Netzwerks zu sein. Und wenn die Auftraggeber dieser Produktionen, in denen ihre Persönlichkeit verlorengeht, so loyal sind, ihr klarzumachen, dass sie sich verrennt.“
Tatsächlich: Konnte niemand in Avignon Liddell sagen, dass es nicht angeht, mit dem nackten Hintern zu wackeln und dabei den Namen einer Kritikerin von „Le Monde“ zu plärren? Oder in die fast zweitausendköpfige Runde das Dutzend derber Bedeutungen des spanischen Substantivs „cabrón“ zu tröten, das quasi homonym ist mit dem Familiennamen eines weiteren bloßgestellten Journalisten (der seitdem Anzeige erstattet hat)? Was auf diese Eingangssequenz folgt, ist womöglich noch vulgärer, einfallsärmer und langfädiger. Wir wollen es hier bei den oben angeführten Kritiker-Zitaten belassen. Die Produktion – dies ihr einziges Verdienst – liefert die Ruten mit, um sie zu schlagen.
Von ganz anderer Güte Séverine Chavriers fünfstündige Dramatisierung von William Faulkners Roman „Absalom, Absalom!“. Deutsche Besucher mögen sich hier an entsprechende Unternehmen von Frank Castorf erinnert fühlen: Freie Anverwandlung des Stoffes auf improvisatorischer Basis, epische (Über-)Längen durch Endlosdialoge und Livemusik-Einlagen, permanenter Einsatz von Fixkameras und einer Operateurin mit Steadicam, Dauerberieselung durch einen Bassisten auf der Bühne sowie durch Geräuscheffekte, Chansons der 1930er Jahre und sinfonische Musik (Mahler, Ives, Elgar…) vom Band. Das Ganze wirkt sehr kinematografisch: Man blickt fast mehr auf die riesige Videoprojektionsfläche als auf das Geschehen darunter. Wer die Vorlage nicht gelesen hat, dürfte Mühe haben, den Sprüngen zwischen Zeitebenen und Erzählinstanzen zu folgen. Aber wichtiger als die – auch bei Faulkner gezielt verunklarten – Details der Geschichte des diabolischen Thomas Sutpen, der bei seinem Rachefeldzug gegen soziale Unterdrückung just die Strukturen perpetuiert, die er niederzureißen meint, ist hier die Atmosphäre: etwas südstaatlich Gewittriges, clownsgesichtig Grimassierendes, getragen durch unvergessliche Schauspieler wie Annie Mercier als raucherstimmiges Indianergesicht Rosa Coldfield oder Laurent Papot als manisch-übergriffiger Springteufel Sutpen.
Festspielintendant Tiago Rodrigues stellte seinerseits in der Carrière de Boulbon, einem mythischen stillgelegten Steinbruch außerhalb der Stadt, sein eigenes Drama „Hécube, pas Hécube“ vor. Der erste Eindruck beim Lesen des Textes bestätigte sich bei der Aufführung: Die Eingangsszene, bei der sieben Theaterschauspieler die Tragödie „Hekabe“ von Euripides zu proben beginnen, wirkt ein wenig läppisch. Selbstreferentielles, Running Gags, routiniertes Geplänkel – gepflegter Boulevard, wie ihn die Mitglieder der Pariser Comédie-Française, denen der Text auf den Leib geschrieben ist, im Schlaf beherrschen. Unsere Vermutung: Der antiklimaktische Einstieg sucht gezielt zu „düpieren“ – ein auch im Französischen wenig gebräuchliches Verb, das hier gleich viermal verwendet wird. Rodrigues schafft eine bewusst platte Ausgangsfläche, um dann umso steiler aufzusteigen.
Was ihm gleich in der zweiten Szene gelingt. Die Interpretin Hekabes, Nadia (stark und gespannt wie eine Stahlsaite: Elsa Lepoivre), wird da erstmals durch einen Staatsanwalt angehört (sanft und ruhig wie das Schwert der Justiz: Denis Podalydès). Nadias Sohn, ein zwölfjähriger Autist, wurde in dem Heim, das ihn die Woche über betreut, schwer misshandelt. Der Plot des Stücks zeichnet eine aufsteigende Rachespirale nach: Über zwei Betreuer und einen Inspekteur arbeitet sich Nadia bis zum zuständigen Staatssekretär hinauf, den sie – stellvertretend für den Staatsapparat als Ganzes – an den medialen Pranger stellt. Keiner entkommt ihrer Rache, wie auch Hekabe dem Hüter ihres jüngsten Sohnes, der diesen aus Goldgier gemeuchelt hat, das Augenlicht und die männlichen Nachkommen raubt.
Peu à peu schiebt sich das antike Mutterdrama über das zeitgenössische, überlagern sich die Hauptfiguren (jeweils eine Klägerin, ein Angeklagter und ein Gerechtigkeitsbringer), entspringt dem Lieblingszeichentrickfilm des autistischen Sohnes eine monumental-dräuende Hündinnen-Skulptur – Inbild der Liebe beider Mütter zu ihren Kindern wie der Verbissenheit, mit der sie Rache suchen für das Unrecht, das jenen angetan wurde. Bei Ovid metamorphosiert sich Hekabe am Ende in eine Hündin. Bei Rodrigues erhebt sie ein winselndes Geheul, das jenem echot, welches wenig zuvor von weit hinter dem Steinbruch hergedrungen war. Nach den Schlussverbeugungen am Premierensonntag trat der Intendant allein vor die Zuschauer und verkündete angesichts des Triumphs einer bösen braunen Bewegung in der ersten Runde von Frankreichs Unterhauswahlen die Bereitschaft der größten Theaterfestspiele der Welt, in Widerstand zu treten.
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