Zum siebzigsten Geburtstag von Frankreichs größtem lebenden Modeschöpfer: Jean-Paul Gaultier
Allzu oft wurde Jean-Paul Gaultier ein „Enfant terrible“ genannt. Das Schlagwort ist nicht nur hoffnungslos abgegriffen, es suggeriert auch einen revolutionären Ingrimm, eine zähnefletschende Militanz, die dem frohgemuten Temperament des französischen Couturiers fremd sind. „Terrible“ wäre Gaultier allenfalls im positiven Sinn des Wortes, loben doch alle, die ihn auch nur ein wenig kennen, nicht nur den „großartigen“, ja „fantastischen“ Schöpfer, sondern auch den zugänglichen und humorvollen Menschen. Wiewohl privat von Dramen nicht verschont – sein Geschäfts- und Lebenspartner Francis Menuge starb 1990 an den Folgen einer Aids-Erkrankung –, ist Gaultier als öffentliche Person der undramatischste Modeschöpfer überhaupt: weder Drogen noch Depressionen, weder Skandale noch Affären.
In ihrer ersten Hälfte trifft die Charakterisierung als „Enfant terrible“ aber zu. Gaultier hat sich sein Kindergemüt bewahrt: Alles, was glitzert und gluckst, farbig feixt und populär plärrt, zieht ihn an. Hochkultur ist sein Ding nicht: Der Sohn einer Sekretärin und eines Buchhalters, der in der kleinbürgerlich-beschaulichen Pariser Vorstadt Arcueil aufwuchs und im privaten Damensalon der geliebten Großmutter zwischen der Teddybärin Nana und dem einkanaligen Fernsehapparat von einer Zukunft als Coiffeur, Konditor oder Kleidermacher träumte, hört lieber Boy George als Boulez, zieht Almodóvar Antonioni vor und findet Frida Kahlo faszinierender als Sophie Calle.
Unzählige seiner Modelle haben etwas Naiv-Märchenhaftes: ein Abendkleid, über das eine ganze Leopardenhaut übergeworfen ist, die sich bei näherem Hinsehen als ein Trompe-l’œil aus unzähligen Stickperlen entpuppt; eine Nixe, deren Blöße unter einer Flut silberbleicher Rapunzelhaare sowie zwei Plastikrosenkränzchen verschwindet; Braut und Bräutigam, von Kopf bis Fuß in lilienweiße Zopfmuster-Strickware eingedeckt. Und ist es ein Zufall, dass die erste Gaultier-Boutique in der Pariser Rue Vivienne einem pompejanischen Spielzeug-U-Boot glich und dass der Designer die Kostüme für einen Film entworfen hat, der den Titel „Die Stadt der verlorenen Kinder“ trägt?
Müsste man sich auf einen Grund beschränken, warum Gaultier ein prominenter Platz im Modepantheon sicher ist, wären es seine Verdienste um die Emanzipation… der Männer. Seit der Herrenkollektion mit dem programmatischen Titel „Et Dieu créa l’homme“ 1985 kleidete der Designer das sogenannte starke Geschlecht in Abend- und Miniröcke, ließ es durch nackte Rücken entzücken, steckte es in Korsette und Boleros, stülpte ihm Satin-Schlaghosen mit bauschig abstehenden Tüll-Volants über und schmückte es mit Rüschen und Federn, Schleifen und Schleiern, Perlen und Pailletten. Warum sollten Männer nicht auch kokettieren und paradieren dürfen? Als ihm 1996 John Galliano für die Leitung der Couture-Abteilung von Dior vorgezogen wurde, rächte sich Gaultier auf seine konstruktiv-friedliche Art, indem er die Männerkollektion „Couture Man“ ebenso kunstfertig konzipierte wie die weiblichen Haute-Couture-Defilees, die er im Folgejahr lancierte.
Als Damencouturier bewies der großgewordene Banlieue-Bub eine technische Meisterschaft, die jener seiner Landsleute Azzedine Alaïa und Christian Lacroix in nichts nachstand. Für die breite Öffentlichkeit ist Gaultier der Erfinder des durch Madonna popularisierten konischen Büstenhalters. Das ist falsch (Saint Laurent hatte diese Formen bereits 1967 westafrikanischen Skulpturen abgeschaut), vor allem jedoch anekdotisch gegenüber der ungleich wichtigeren Rehabilitierung des Korsetts. Dieses bildete, oft mit fetischistischen oder S&M-Versatzstücken garniert, im Bereich der Damenmode Gaultiers Markenzeichen. Doch keine Angst: der Couturier war ein – laut eigener Aussage – „konservativer“ Provokateur, dessen Kinderwelt nichts Schmutziges, geschweige denn Perverses kannte. Sex war bei ihm eine verspielte, entspannte Sache.
Bleibt ein letztes Alleinstellungsmerkmal: Humor. Die in der Modebranche rare Tugend war dem Designer überreich gegeben. Seine „Western Baroque“-Kollektion bevölkerten 1989 Cowboys in Leopardenmustern, die ihre Revolver in Regenschirmen versteckten. „Les Poupées“ lockte 1986 mit „Unterröcken für jede Gelegenheit“. Einmal verwandelte Gaultier einen Trenchcoat in einen Badeanzug, ein andermal setzte er einem Mannequin eine Kopfbedeckung auf bestehend aus einem Miniatur-Vogelkäfig, einer Puppen-Geige und einem Zwerg-Bügelhorn.
2010 hat der genialische Kindskopf die Leitung des Frauen-Prêt-à-porters bei Hermès abgegeben, 2014 die Konfektionsabteilung des eigenen Hauses geschlossen, 2020 auch den Entwurf seiner Couture-Kollektionen eingestellt. Die Zukunft des Unternehmens Jean Paul Gaultier (ohne Bindestrich) verantworten nunmehr im Jahresturnus jüngere Designerinnen und Designer (im Couture-Bereich nach Chitose Abe und Glenn Martens heuer Olivier Rousteing); doch der Gründer amtiert weiterhin als Markenbotschafter. Am Sonntag feiert Frankreichs größter lebender Modeschöpfer, in seiner Langlebigkeit und kreativen Potenz einzig mit Yves Saint Laurent vergleichbar, seinen siebzigsten Geburtstag. Wir wollen wetten, dass auf seiner Lieblingstorte, Pierre Hermés rosarotem Klassiker „Ispahan“, lediglich sieben Kerzen brennen.
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