Emmanuel Macron ernennt Michel Barnier zum Premierminister
Weißer Rauch im Hôtel Matignon: Der Sitz von Frankreichs Premierminister hat seit 18 Uhr einen neuen Inhaber. Nach einer zweimonatigen, präzedenzlosen Krise im Gefolge der vorgezogenen Unterhauswahlen vom 30. Juni und 7. Juli hat Präsident Emmanuel Macron ein Mitglied der Rechtspartei Les Républicains zur Nummer Zwei in der protokollarischen Rangordnung der Republik bestimmt. Der 73-jährige Michel Barnier folgt als ältester Premierminister der Fünften Republik auf den Jüngsten nach: Gabriel Attal zählte bei seiner Ernennung vor knapp acht Monaten gerade einmal 35 Lenze. Barnier ist im Ausland als Chefverhandler der EU-Kommission für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs bekannt; im Inland hat er eine Fülle von Wahlämtern bekleidet, von Departementrat über Abgeordneter bis zu (viermaligem) Minister. Kollegen, Mitarbeiter und Beobachter beschreiben den Savoyarden als einen hochorganisierten Meisterverhandler, der geduldig, unnachgiebig und auf Konsens bedacht sei, zudem über ein glattes, ruhiges und höfliches Gemüt verfüge – es sei schier unmöglich, sich mit ihm zu überwerfen.
Diese Tugenden wird Barnier brauchen in einem Amt, das dieser Tage mehr denn je einem Rodeo auf dem Schleudersitz gleicht. Frankreichs Nationalversammlung, die im Gesetzgebungsverfahren gegenüber dem Senat das letzte Wort hat und zudem im Gegensatz zum Oberhaus die Regierung durch ein Misstrauensvotum stürzen kann, ist in vier Blöcke gespalten – vom Größten zum Kleinsten: die Linke, das Präsidentenlager, die Rechtsextremen und Les Républicains. Sie sind einander spinnefeind und zum Teil auch intern alles andere als eins (namentlichen die Linken). Eine Regierungsmehrheit zu finden, scheint da schier unmöglich, zumal in Frankreich die Kultur der Konfrontation jene der Koalition aussticht.
Macron hatte nach einer selbstherrlich verhängten „olympischen Pause“ seit Mitte August Vertreter der wichtigsten Parteien, graue oder schillernde Eminenzen sowie mögliche Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Regierungschefs sondiert. Über diese Konsultierungen ätzte ein Beobachter: „Am Dienstag trifft er alle ehemaligen Premierminister seit 1981, am Mittwoch die Träger des César-Schauspielpreises seit 1977, am Donnerstag die Gewinner des Tour de France seit 1958“. Der Matignon-Zirkus, bei dem heute ein Name aus dem Hut gezogen wurde, um sich morgen alsogleich in Luft aufzulösen, evozierte zuletzt in der Tat einen allzu oft wiederholten Zaubertrick mit enervierend vorhersehbarem Ausgang.
Statt gleich nach der Unterhauswahl einen Vertreter des siegreichen Linksblocks zu ernennen und diesen dann mit einem allfälligen Misstrauensantrag zurande kommen zu lassen, versteifte sich Macron darauf, selbst den antikapitalistisch-europafreundlich-fremdenfeindlichen Gegner der Wokeness zu finden, der es allen genannten Blöcken recht machen würde. Barnier entspricht diesem unmöglichen Profil ebenso wenig wie jeder andere, aber als Vertreter des historischen, nicht des hysterischen Kanals von Les Républicains mag der Neogaullist, mehr Christdemokrat mit sozialer Ader denn rechter Rattenfänger, ein wenig länger im Amt überleben als seine glücklosen Konkurrenten. Drei der vier Blöcke wollen zumindest bis zu seiner politischen Grundsatzrede warten, bevor sie sich für oder gegen ihn erklären. Desgleichen dürfte der nun beginnende Schacher um Ministerposten bedingen, wie zufrieden oder frustriert die einen und die anderen mit dem neuen Regierungschef sind.
Was Macron angeht, sollte man bei aller berechtigten Kritik an seinem Vorgehen nicht vergessen, dass er nicht allein die Schuld an der aktuellen, akuten Krise trägt. Diese ist primär das Ergebnis der Stimmabgabe der Franzosen: Vor drei Monaten votierten sie in nie gekannter Zahl für die Rechtsextremen, vor zwei Monaten wählten sie ein Unterhaus ohne Regierungsmehrheit. Selbst Jupiter kann nur mit dem Wasser kochen, das man ihm gibt. Und dieses hat in Frankreich je länger, desto mehr einen bitteren Geschmack.
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