Frankreichs Filmwelt lässt sich bei der César-Preisverleihung hochleben – und schweigt die jüngsten #MeToo-Vorwürfe fast tot
La Nuit des Césars bietet seit 1976 eine Mischung aus Gala-Glamour und nationaler Nabelschau. Die Zeremonie zur Vergabe von Frankreichs, sagen wir: einheimischen Filmpreisen (im Gegensatz zu den internationalen, die in Cannes vergeben werden) sucht mit einem Abklatsch der Verleihung der amerikanischen Academy Awards die nationale Produktion hochleben zu lassen. „César“ klingt nicht von ungefähr wie „Oscar“; Witz, Tempo und Timing seines Vorbilds aus Los Angeles erreicht der Pariser Abend indes nur selten.
Judith Godrèches Rede an der 49. Nuit des Césars
Die letzten Freitag abgehaltene 49. Zeremonie wurde erwartet wie selten zuvor eine Ausgabe. Nach dem jüngsten Wiederaufflammen der Debatte über sexuellen Missbrauch in Frankreichs Filmwelt war Judith Godrèche eingeladen worden, eine Rede zu halten. In einem kindlich-poetischen Text, den sie mit fiebrigem Lächeln und flackernder Stimme vortrug, verwies die Schauspielerin auf die schweren Vorwürfe, die sie jüngst gegen die Regisseure Benoît Jacquot und Jacques Doillon formuliert hatte. Doch sei sie nicht da, um über ihre Vergangenheit zu sprechen – eine Vergangenheit, die freilich auch die Gegenwart der zweitausend Personen beschreibe, die ihr innert vier Tagen Zeugnisse von an ihnen begangenen Übergriffen zugeschickt hätten. Und die Zukunft all derer, die noch nicht die Kraft gefunden hätten, selbst auszusagen. Vielmehr wolle sie, so Godrèche, ihre „seltsame Familie“ zur Verantwortung aufrufen, damit „der Vergewaltigung bezichtigte Männer nicht länger mehr das Sagen in der Filmwelt haben“. Und sie dazu anhalten, ihr Verhaltensideal in der Realität mit jenem in der Fiktion in Einklang zu bringen: „Verkörpern wir nicht Heldinnen auf der Leinwand, um uns im wirklichen Leben im tiefen Wald zu verstecken; spielen wir nicht revolutionäre oder humanistische Helden, um morgens dann aufzustehen im Wissen, dass ein Regisseur eine junge Schauspielerin missbraucht hat – und nichts dazu zu sagen.“
Großer Applaus – aber kleines Echo. Nicht weniger als einundzwanzig Moderatorinnen und Moderatoren sowie zweiunddreißig Preisträgerinnen und Preisträger folgten einander im Lauf des Abends auf der Bühne (unter Letzteren die Deutsche Sandra Hüller als Hauptdarstellerin von Justine Triets mit sechs Césars ausgezeichnetem Justizdrama „Anatomie eines Falls“). Nur drei von ihnen verwiesen en passant auf #MeToo; einzig die Regisseurin Audrey Diwan stärkte Godrèche explizit den Rücken mit einer Verbeugung vor deren „Mut“. Und fragte unverblümt den Saal: „Niemand hier unterstützt sexuelle und sexistische Gewalt, oder?“ – ein paar zaghafte Klatscher antworteten ihr. Dabei benannten vor und nach Godrèches Auftritt etliche Rednerinnen und Redner brandaktuelle Themen: Frankreichs Bauernproteste, Alexej Nawalnyjs Tod und Julian Assanges drohende Auslieferung an die USA, Klimawandel und Krieg in Gaza und in der Ukraine…
Natürlich: Niemand ist gezwungen, für die Nuit des Césars statt des Galagewands die Rüstung des Streiters für eine gerechte Sache anzulegen. Auch wenn die Zeremonie seit Isabelle Adjanis Vortrag von Ausschnitten aus Salman Rushdies „Satanischen Versen“ 1989 immer wieder von einer artistischen in eine politische Bühne verwandelt worden ist. Mit einer Vorliebe für brancheninterne Politika, etwa Proteste gegen Reformen der öffentlichen Finanzierung des Sektors oder gegen den als unlauter erachteten Wettbewerb von Kinoketten mit unabhängigen Sälen. Ein solches Politikum bilden jetzt klar auch die hohen Wellen, die Godrèches Vorwürfe – bestärkt durch Zeugnisse der Schauspielerinnen Isild Le Besco und Anna Mouglalis – weitherum werfen. Weitherum, nur nicht in der Filmwelt. Dort lautet die Losung, der Nuit des Césars nach zu schließen, „Meeresstille und glückliche Fahrt“.
Gewiss, es gibt gute Gründe, die #MeToo-Problematik bei dem Anlass unerwähnt zu lassen. In dem Rosenkranz aus Dankesreden an die profane Dreifaltigkeit „Eltern – Produzent – bessere Hälfte“ stäche das Thema der sexuellen Gewalt doch recht unorthodox heraus; Format wie festliche Grundstimmung der Zeremonie sind der Gewissenserforschung ohnehin nicht förderlich. Es gibt auch weniger gute Gründe, auf die Godrèche mit Bezug auf die im Sektor herrschende Omertà in ihrer Rede den Finger legte: „Subventionen verlieren. Rollen verlieren. Seine Arbeit verlieren“. Und es gibt richtig schlechte Gründe. „Seit einiger Zeit rede ich, rede ich“, wandte sich die Schauspielerin an die geladenen Vertreter ihrer „seltsame Familie“. „Aber ich höre euch nicht, oder kaum. Wo seid ihr? Was sagt ihr? Ein Flüstern nur. Ein halbes Wort“. Wo bleibt der fällige Aufschrei?
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