Wirbel um ein Gemälde, das vor langen Jahren verschwunden ist und in der Sammlung der US-amerikanischen Pop-Ikone wiederaufgetaucht sein soll
Wirren des Ersten Weltkriegs: Im Frühjahr 1918 suchte das Deutsche Reich über Amiens hinweg bis an den Ärmelkanal vorzustoßen. Die mit dem Decknamen „Michael“ versehene Offensive blieb nach wenigen Wochen stecken, doch ein tagelanger Bombenhagel legte Teile der Hauptstadt der Picardie in Schutt und Asche. Auch das städtische Kunstmuseum, das erste in Frankreich, das (unter Napoleon III.) spezifisch als solches errichtet worden war, wurde getroffen. Ein Geschütz explodierte im nordwestlichen Pavillon, in dem rund zwanzig großformatige Gemälde des neunzehnten Jahrhunderts hingen. Darunter „Diana und Endymion“ des David-Schülers Jérôme-Martin Langlois (1779 bis 1838), ein langfristiges Depot des Louvre. Als sich sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Konservator für das Werk interessierte, war es unauffindbar. Die letzte Spur im Hausinventar reicht ins Jahr 1914 zurück. War das Bild dem Bombenangriff zum Opfer gefallen? War es schon zuvor aus der Sammlung des Louvre herausgelöst („deklassifiziert“) worden und auf undokumentierten Wegen in fremde Hände gelangt? Hatte jemand es gar veruntreut?
2015 blätterte ein Konservator des Museums von Amiens eine Ausgabe der Illustrierten „Paris Match“ durch. In einem Beitrag über Madonna stach ihm ein Gemälde ins Auge, das im Treppenhaus des kalifornischen Domizils der Pop-Ikone hing: „Diana und Endymion“! Wie sich herausstellte, hatte die kunstsinnige Sängerin das Werk 1989 bei einer Sotheby’s-Auktion in New York erworben, für die damals stattliche Summe von 1,3 Millionen Dollar. Daraufhin erstattete das Musée de Picardie Anzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahl. Jüngst nun wandte sich die Bürgermeisterin von Amiens in einem Facebook-Video an Madonna mit der Bitte, sie möge das Bild doch 2028 ausleihen. Dann wird eine französische Stadt europäische Kulturhauptstadt sein, wofür Amiens – der Geburtsort von Präsident Macron – unlängst seine Kandidatur angemeldet hat.
Der Aufruf von Brigitte Fouré blieb nicht unbemerkt.
Eine pikante Geschichte, die zuerst von „Le Figaro“ erzählt und dann durch unzählige Gazetten und TV-Sender nachgebetet wurde. Nur enthält sie kapitale Lücken. So ist nicht erst seit 2015 bekannt, dass Madonna ein Bild mit dem Titel „Diana und Endymion“ besitzt. „Jeder in der Kunstwelt kannte das Gemälde, jeder wusste, dass es durch Madonna erworben worden war“, erzählte die seinerzeit amtierende Museumsdirektorin jüngst dem „Journal d’Amiens“. Die Anzeige von 2015 betrifft denn auch nicht spezifisch das Werk von Langlois, sondern mehrere während des Ersten Weltkriegs verschwundene Werke. Derlei Klagen sind der aktiven Suche förderlich, wie auch einer allfälligen Restitution, sollten ein oder mehrere verschollene Schätze wiederauftauchen.
Der Louvre höchstselbst hatte 1988 die Ausfuhrgenehmigung für das im Folgejahr in New York versteigerte Gemälde abgesegnet. Seine Verantwortlichen waren der Ansicht, es handle sich um eine Kopie des verschollenen Originalwerks. Im Gegensatz zu diesem trägt es weder Langlois‘ Signatur noch auf der Rückseite den einschlägigen Stempel. Vor seiner Ausfuhr war es in einer Pariser Galerie ausgestellt und im entsprechenden Katalog Langlois oder dessen Entourage zugeschrieben worden – selbstverständlich mit Verweis auf das verschwundene Tableau von Amiens. Sein Erwerb durch die Pop-Diva war so regelmäßig, wie es nur geht; es gibt keine neuen Elemente, die diese Regelmäßigkeit heute infrage stellen würden.
Nur eine wissenschaftliche Untersuchung könnte mit letzter Gewissheit ausschließen, dass es sich beim Madonna-Bild um dasselbe Werk handelt wie jenes, das dem Museum von Amiens abhandengekommen ist. Aber die Online-Zeitung „La Tribune de l’art“ hält das mit Berufung auf Recherchen in den Louvre-Archiven für unwahrscheinlich – wie übrigens auch der derzeitige Interimsleiter des Musée de Picardie, der anderer Meinung ist als die 2015 amtierende Direktorin und Urheberin der seinerzeitigen Anzeige. Auch auf der Website der Vereinigung der Konservatoren der Region Hauts-de-France ist von einer Replik die Rede. Das Madonna-Bild ist etwas kleiner dimensioniert als das verschollene Gemälde (freilich könnte dieses zugeschnitten worden sein, um Langlois‘ Unterschrift verschwinden zu lassen). Vor allem jedoch zeigen zwei voneinander unabhängige Estampen des neunzehnten Jahrhunderts das originale Tableau mit einem großen Baum oben rechts – welcher bei der mutmaßlichen Kopie fehlt.
Warum also der ganze Wirbel? Nun, Journalisten erzählen gern pikante Geschichten. Und Politikern ist jedes Mittel recht, Aufmerksamkeit für ihre Projekte zu erregen. Nur Madonna schweigt bis jetzt.
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