Heute vor zweihundert Jahren gelang Jean-François Champollion beim Versuch, die Schrift der Pharaonen zu entziffern, der entscheidende Durchbruch
Der Heureka-Moment gehört zu Jean-François Champollions (1790-1832) Geschichte wie die Doppelkrone zum Pharao. Er darf in keiner Biografie des Übervaters der Ägyptologie fehlen. Schildern wir ihn gleich zu Beginn.
Am frühen Morgen des 14. Septembers 1822 befasste sich der junge Gelehrte in seinem Pariser Zuhause mit Reproduktionen hieroglyphenbedeckter Flachreliefs aus dem Tempel von Abu Simbel. Das Idiom des alten Ägyptens wurde damals als eine symbolisch-irrationale Traumsprache angesehen: Es galt als hermetisch, zugleich künstlich und kindisch, Ausdruck eines „von der Besonnenheit“ nicht erschließbaren „Närrischseyn[s]“ (so der romantische Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert). Ein außerordentliches Sprachtalent schickte sich an, diese Rätselzeichen zu entziffern – schon als Dreikäsehoch kannte Champollion längere Ausschnitte aus Homers und Vergils Epen auswendig, während seiner Schuljahre lernte er autodidaktisch Arabisch, Äthiopisch, Chaldäisch, Hebräisch, Syrisch sowie seine Lieblingssprache, Koptisch.
Zunächst fasste der Forscher an jenem Septembermorgen eine sogenannte Kartusche ins Auge: eine Folge von Hieroglyphen, die, von einer länglich-ovalen Linie umrandet, einen Königsnamen bilden. Die beiden letzten Zeichen waren identisch; da Champollion bereits über Bruchstücke eines ägyptischen Alphabets verfügte, identifizierte er sie sogleich als zwei „S“. Die erste Hieroglyphe glich einer Sonnenscheibe. Ihr ordnete der Sprachforscher den Laut „Ra“ zu – so spricht sich „Sonnenscheibe“ auf Koptisch aus, ein Idiom, das direkt aus dem Neuägyptischen hervorgegangen ist und Champollion bestens vertraut war. Blieb ein letztes Zeichen, das der Forscher von anderer Stelle her kannte, als Bestandteil eines Wortes, das „Geburtstag“ bedeutet. Da „gebären“ auf Koptisch „Mise“ ausgesprochen wird, wies Champollion ihm den Laut „M“ zu (hier täuschte er sich ein wenig: Das Zwei-Konsonanten-Zeichen spricht sich in Wirklichkeit „Ms“ aus, aber das machte im vorliegenden Fall keinen Unterschied). Die Folge der vier Hieroglyphen ergab also „Ra-M-S-S“ – den berühmten Pharaonennamen „Ramses“!
Solcherart von Deduktion zu Deduktion fliegend, konnte Champollion im Lauf des Morgens noch den Namen „Thutmosis“ lesen, dann sogar einen vollständigen Satz: „Ptolemäus lebt ewig, von Ptah geliebt“. Gegen Mittag war er sicher, über das vollständige Alphabet zu verfügen. Er raffte seine Beweise zusammen, rannte von der Rue Mazarine an die nahegelegene Académie des inscriptions et belles-lettres, warf seinem dort angestellten Bruder das Bündel Papiere auf den Schreibtisch und rief: „Je tiens l’affaire!“. Frei übersetzt: „Ich habe die Nuss geknackt!“. Dann brach er ohnmächtig zusammen und verharrte fünf Tage lang im Zustand der Lethargie.
Die Heureka-Anekdote ist wohl authentisch: Drei Zeugnisse von Zeitgenossen beglaubigen sie, nur leicht voneinander abweichend. Freilich suggeriert sie eine blitzartige Lösung des Hieroglyphen-Rätsels, die es nie gegeben hat. Wohl fand am 14. September 1822 der entscheidende Durchbruch statt. Doch der Bau des Tunnels hatte schon lang vorher begonnen – und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis man das Licht am Ende sähe. Auch trugen noch andere Gelehrte zur Entzifferung der ägyptischen Schriftzeichen bei.
Was Champollions Bemühungen betrifft, lassen sich drei Etappen unterscheiden. Bis September 1822 war der Sprachforscher der Ansicht, sämtliche Hieroglyphen repräsentierten Begriffe, nicht Laute. Mit einer Ausnahme: der Schreibung fremdländischer, namentlicher griechischer oder römischer Eigennamen (etwa „Berenike“ oder „Trajan“). Während der zweiten Phase, bis April 1823, änderte Champollion seine Meinung grundlegend. Dank dem Versuchs-und-Irrtum-Verfahren erkannte er, dass sich nicht nur einheimische Namen wie „Ramses“ und „Thutmosis“ phonetisch lesen lassen, sondern auch gewöhnliche ägyptische Wörter (die er aufgrund ihrer Verwandtschaft mit koptischen zu identifizieren vermochte). Diese Erkenntnis trug der Forscher im April 1823 der Académie des inscriptions et belles-lettres vor. Im Lauf des folgenden Jahrs endlich verfeinerte Champollion seine Typologie der ägyptischen Schriftzeichen, die er der interessierten Öffentlichkeit in seinem „Précis du système hiéroglyphique des anciens Égyptiens“ vorstellte (April 1824, revidierte Fassung: 1828).
Auf diesem Kompendium aufbauend, brachten andere – vom Deutschen Karl Richard Lepsius bis zum Briten Alan H. Gardiner, dem Verfasser einer bis heute unerreichten „Egyptian Grammar“ (1927) – unsere Kenntnisse über die ägyptische Schriftsprache auf den heutigen Stand. Kurz resümiert: Hieroglyphen lassen sich in drei Gruppen einteilen. Lautzeichen (Phonogramme) bilden die größte von ihnen: Sie stehen für einen einzelnen Laut oder für eine Folge von zwei bis fünf Lauten. Bildzeichen (Logogramme) sind weniger zahlreich: Sie repräsentieren entweder ebenfalls einen Laut (oder eine Lautfolge) oder aber bildlich einen Begriff. Letzteres, wenn sie mit einem Deutzeichen (Determinativ) versehen sind, einem stummen Zeichen, das lediglich dem Verständnis dient und nicht ausgesprochen wird. Verwirrend ist aus unserer Sicht der Umstand, dass manche Zeilen von links nach rechts gelesen werden, andere von rechts nach links; ferner die graphische Anordnung der Zeichen zu kompakten Schriftblöcken – eine Art „Layout“, das nicht immer der Ordnung folgt, in welcher die Hieroglyphen als Wortbausteine regulär stehen müssten; endlich die Tatsache, dass die Zeichen lediglich für Konsonanten stehen. Die Hinzufügung der fehlenden Vokale ist fast immer hypothetisch – siehe die Folge „Ra-M-S-S“, die zu „Ramses“ ergänzt wurde. In jener Handvoll Fälle, wo die Aussprache überliefert ist (etwa dank der diplomatischen Korrespondenz), divergiert sie stark von der gängigen Schreibweise: „Tauet-anchu-Amanu“ gegen „Tutanchamun“, „Nafteta“ versus „Nofretete“…
Ein Faktor immerhin erleichtert das Lesen der Schrift der Pharaonen: Die analog zu den drei großen Epochen der ägyptischen Geschichte entstandenen Sprachstufen Alt-, Mittel- und Neuägyptisch gehen fast ohne Bruch ineinander über. Über gut drei Jahrtausende hinweg, von 2700 v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert unserer Zeit, besteht ein weitgehendes Kontinuum.
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Als Champollion die Hieroglyphen entzifferte, war das Land der Pharaonen schon seit Jahrhunderten eine „französische Leidenschaft“, wie es Robert Solé in seiner Studie „L’Égypte, passion française“ ausführt. Kontakte bestanden seit 1249, als die Teilnehmer des Sechsten Kreuzzugs unter der Leitung von Louis IX. in Damiette landeten und gen Kairo marschierten. Dem König brachte das Unternehmen zwar lediglich die Dysenterie und eine kostspielige Gefangenschaft. Aber französische Pilger pflegten von da an ihren mehr oder minder frommen Reisen nach Betlehem und Jerusalem einen Abstecher ins Niltal anzuhängen – schließlich wird Ägypten nicht weniger als 680mal in der Bibel erwähnt. Dort bestaunten sie unter anderem den Felsen, aus dem Moses Wasser schlug, und die Grube, in der das Goldene Kalb gegossen wurde.
1665 erschien eine erste „description“ Ägyptens – derartige „Beschreibungen“ würden sich in Frankreich zu einem Genre eigener Art entwickeln. Das pauschale Portrait der Landesbewohner, das darin entworfen wird, verdient zitiert zu werden: „Die Einheimischen, Muslime wie Christen, sind alle braungebrannt, sie taugen zu nichts, belasten sich mit keinerlei Skrupeln, sind feige, faul, scheinheilig, große Päderasten, Diebe, Verräter, Geldsauger; kurz: vollendete Sünder – und Hasenherzen ersten Grades.“ Trotz (oder gerade wegen) dieses vernichtenden Urteils folgten im 18. Jahrhundert zahllose Reiseberichte nach, die oft reißenden Absatz fanden. Während etwa Constantin-François Volneys „Voyage en Syrie et en Égypte“ 1787 für eingefleischte Schwarzseher ein trostloses Bild der im Nil-Land herrschenden Armut und Anarchie malte, entwarfen Claude-Étienne Savarys „Lettres sur l’Égypte“ im Folgejahr für unverbesserliche Optimisten das pittoreske Panorama einer orientalischen Idylle. Der Autor wagte gar die Prophezeiung, dass das schöne und reiche Land, so nur eine aufgeklärte Nation seine Geschicke in die Hand nähme, rasch seine antike Schlüsselrolle als Bindeglied zwischen Europa und Asien zurückfinden würde. Savarys glühender Schwärmerei folgend, entbrannte am Ende des Ancien Régime eine eigentliche „Ägyptomanie“. Von dieser zeugt unter vielem mehr Marie-Antoinettes Faible für Sphingen, dem Aristokraten in Gartendekors mit Obelisken und Pyramiden nacheiferten.
Fast zehn Jahre nach dem Ausbruch der Revolution offizialisierte dann der damalige Außenminister, Talleyrand, Inbegriff des Realpolitikers, Anfang 1798 ein altes Projekt: die Besetzung Ägyptens. Pikanterweise hatte bereits der junge deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz 1672 dem Sonnenkönig (vergeblich) diese Expedition angeraten. Seitdem war das Vorhaben immer wieder diskutiert worden, doch ohne Folgen. Talleyrands Statur als Stütze des Ancien Régime wie des revolutionären Directoire trug ebenso zu seiner Konkretisierung bei wie die Argumente, die der Minister vorbrachte: Ägypten sei reich, leicht zu erobern und liege geografisch im Zentrum des Welthandels (der Isthmus von Suez werde, einmal die Sicherheit im Lande wiederhergestellt, Handelsschiffen aus oder nach Indien die lange und teure Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung ersparen). Auch könne man mit der Einnahme Ägyptens den sich abzeichnenden Verlust der Kolonien in Nordamerika mehr als kompensieren. Das Problem der Menschenrechte endlich, für welche die junge Republik ja einzustehen behauptete, evakuierte man kurzerhand mit dem Verweis auf die „Zivilisation“, die man den Ägyptern bringen werde.
Mit der Leitung der Expedition wurde der brillanteste General der Nation betraut: Bonaparte. Dieser träumte seit seiner Kindheit vom Orient, hatte die Reiseberichte von Volney, Savary und vielen anderen verschlungen und sich für alle Fälle sogar schon einen kleinen arabischen Wortschatz angelegt. An Thomas Mann, den Autor der in der Zeit des Pharaos Echnaton angesiedelten Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“, schrieb Sigmund Freud 1936, er sehe Bonapartes Expedition als die gewaltsame Rationalisierung einer Wahnvorstellung an: Der junge General habe insgeheim gehofft, seinen Komplex gegenüber dem älteren Bruder Joseph durch militärische Erfolge in jenem Land zu überwinden, in dem auch der biblische Joseph dank einem steilen Aufstieg den Konflikt mit den eigenen Brüdern hatte beilegen können.
Um es gleich zu sagen: Das Abenteuer mündete in ein Debakel mit unvorhergesehenen Folgen. Es gab Blitzsiege und klägliche Niederlagen; die Franzosen litten unter Heimweh, Pestepidemien, vor allem jedoch ständigen Strategiewechseln. Mal verbündete man sich mit dem Sultan, mal mit dessen abtrünnigen Statthaltern. Mal instrumentalisierte man Ägypten als Pfand im Krieg gegen England, mal suchte man sich auf Dauer zu etablieren. Nach 38 Monaten – Bonaparte war längst nach Paris zurückgekehrt, wo er Ende 1799 die Macht an sich riss – verjagte eine anglo-türkische Koalition die Besetzer aus dem Land. Doch kaum waren die Franzosen weg – waren sie auch schon wieder da! Diesmal auf Dauer: als Berater und Techniker des neuen starken Mannes, des osmanischen Gouverneurs Muhammad Ali, der aufgrund seiner weitgehenden Unabhängigkeit vom Sultan in Konstantinopel „Vizekönig“ tituliert wurde. Franzosen professionalisierten seine Armee, bauten ihm Kanäle, Brücken und Deiche, reformierten das Gesundheits- und Erziehungssystem. Muhammad Ali gab sich als „Zivilisator“, als Fortsetzer des Werks von Bonaparte – Victor Hugo flocht ihm Lobeskränze, Kritiker wie Chateaubriand („all das ist keine Zivilisation“) und Victor Schoelcher („der Fellache stirbt an Entkräftung neben den prallgefüllten Getreidespeichern des Vizekönigs“) waren einsame Rufer in der Sandwüste.
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Dies die Situation, als Champollion am 31. Juli 1828 nach Ägypten aufbrach: Enge personelle Bande zwischen den beiden Ländern und in Frankreich eine gebildete Öffentlichkeit, die nach allem Ägyptischen gierte, ob Dichtung oder Wahrheit. Mit 38 Jahren erhielt der inzwischen europaweit anerkannte Forscher endlich die Gelegenheit, das Land seiner Studien in Augenschein zu nehmen. Finanziert wurde die Reise zu gleichen Teilen durch die französische und die toskanische Regierung; neben sieben Franzosen nahmen daran ebenso viele Italiener teil. Ziel der wissenschaftlichen Expedition war erklärtermaßen die Erfassung des gesamten noch erhaltenen altägyptischen Kulturerbes, das durch den Modernisierungsschub des Landes akut bedroht war. Tempel und Monumente, Flachreliefs und Malereien sowie Inschriften aller Art sollten in Farbe abgezeichnet werden. Mit Nachdruck betonte Champollion in seinem Memorandum zur Rechtfertigung des Unternehmens, dass erst die Entzifferung der Hieroglyphen das Verständnis der über und über mit Schriftzeichen bedeckten Relikte ermöglichen werde.
Am 18. August küsste der Forscher im Hafen Alexandrias zum ersten Mal den Boden Ägyptens. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten mit lokalen Honoratioren (unter ihnen der französische Konsul, Bernardino Drovetti, von dem noch die Rede sein wird) sowie einer kurzen Audienz bei Muhammad Ali, der der Expedition seinen Segen gab, verteilten sich die Mitglieder der Mission auf zwei „Isis“ und „Athyr“ („Hathor“) getaufte Boote und segelten nach Kairo. Dort begann ihre Expedition nilaufwärts. Champollion, der bereits die türkische Militäruniform mit Turban und Säbel trug, wechselte wie seine Mitreisenden in ein langes weißes Tuchhemd, eine kurze, breite Hose und rote Lederpantoffeln über. Dunkelhäutig, mit Schnurrbart und Bäuchlein versehen, sah er aus wie ein Einheimischer. Nilwasser trank er täglich.
Die lange Reise war gesäumt von Enttäuschungen und Entdeckungen. In der Totenstadt Sakkara erwartete die Erforscher eine immense Ebene voller Anhäufungen aus Tonscherben, Mumienbinden und gebleichten Gebeinen – das Werk von Grabräubern und Leichenfledderern. In Theben brachen sie, zu ungeduldig, um bis zum nächsten Morgen zu warten, bei Mondschein und ohne Führer zum berühmten Tempel auf. Prompt verirrten sie sich in den hohen Gräsern – ein armer Teufel, der hinter einem Baumstumpf schnarchte, musste sie endlich zum Ziel führen. Im Hathor-Tempel von Abu Simbel kopierten die Zeichner die berühmten Fresken im zittrigen Schein von an Stangen hochgehaltenen Kerzen – für Fackeln war die Luft zu verbraucht. Und überall Sand, Sand, Sand! Monumente, die sich heute in voller Gestalt vor uns erheben, waren damals fast vergraben. Mangels Ausrüstung und Arbeitskräften entging Champollion so manche Statue, so manches Grab. Verborgene Schätze lagen zum Greifen nahe – doch bergen würden sie andere.
Am 1. Januar 1829 machte die Expedition bei der zweiten Nilkatarakt kehrt. Auf der Rückreise verweilten die Erforscher an jenen Stationen, die sie bei der Hinfahrt als einer vertieften Untersuchung würdig befunden hatten: Abu Simbel; bei Theben das Ramesseum, das „Tal der Könige“ sowie der Totentempel der (durch Champollion nicht identifizierten) Hatschepsut; endlich Karnak. Im September waren die Teilnehmer wieder in Alexandria; die über zweimonatige Wartezeit auf die Überfahrt nach Frankreich vertrieb sich Champollion unter anderem mit undiplomatisch offenherzigen Gesprächen mit Muhammad Ali in dessen Palast.
Als der Gelehrte am 4. März 1830 in Paris aus der Postkutsche stieg, blieben ihm auf den Tag genau noch zwei Jahre zu leben. Der Empfang war, alles in allem, ernüchternd – den drei Monate zuvor zurückgekehrten Toskanern hatte die Heimat einen Triumph bereitet. In Frankreich hingegen spitzten sich die Spannungen zwischen dem mehrheitlich liberalen Parlament und der durch den König 1829 ernannten reaktionären Regierung zu einer politischen Krise zu, die endlich die Julirevolution zeitigen würde. Das alte Ägypten stand da nicht just im Fokus des öffentlichen Interesses. Dabei hatte Champollion vor Ort nicht nur sein Entzifferungssystem der Hieroglyphen vollauf bestätigen können, er brachte auch hochkarätige Kunstwerke für den Louvre mit sowie gut 1500 durch Expeditionsmitglieder angefertigte Zeichnungen!
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Letztere verstanden sich explizit als Korrektiv zu der drei Jahrzehnte zuvor im Gefolge von Bonapartes Ägyptenfeldzug in Angriff genommenen „Description de l’Égypte“. 167 Wissenschaftler hatten seinerzeit die 54 000 Soldaten begleitet; in der ab 1809 veröffentlichten „Description“ erfassten sie alles, was sie an Beschreibungswürdigem in Ägypten gefunden hatten, von den Bewohnern bis zu den Insekten, von den Monumenten bis zu den Schreinerwerkzeugen. Die Erstausgabe zählt dreiundzwanzig Bände, die zum Teil über einen Meter hoch sind – Kunsttischler fertigten dafür eigens luxuriöse Bücherschränke an! Doch die 126 Textbeiträge und 894 Bildtafeln wimmeln von Fehlern, was Champollion schon vor seiner Reise wiederholt moniert hatte. Wenig Wunder war Edmé-François Jomard, der langjährige Leiter der mit der Herausgabe des Mammutwerks betrauten Kommission, ein Intimfeind.
Doch an Neidern, Kleingeistern und brüskierten Karrieristen fehlte es in Champollions Umfeld nie. Mehr Polemiker als Diplomat, rief der Heißblüter, was auch immer er schrieb, sagte oder tat, Gegner auf den Plan. Unter ihnen der erwähnte Bernardino Drovetti, der die Ägyptenexpedition mit der einen Hand förderte und mit der anderen zu torpedieren suchte, weil sie seine einträgliche Tätigkeit als Antikenhandel treibender Konsul bedrohte; Giulio Cordero di San Quintino, Leiter des Museums von Turin und seiner erstrangigen, bei Drovetti erworbenen ägyptischen Sammlung, der 1824 zu Recht befürchtete, Champollions Studienaufenthalt vor Ort würde seine eigene Mittelmäßigkeit aufdecken; und der Graf von Forbin, der als wissenschaftlich eher unbeleckter Louvre-Direktor 1826 die Ernennung des brillanten Gelehrten zum Konservator einer im Folgejahr eingeweihten „ägyptisch-phönizisch-persepolisch-induistischen“ (sic) Abteilung hinnehmen musste. Dass Champollion erst beim dritten Anlauf 1830 in die Académie des inscriptions et belles-lettres gewählt wurde, spricht Bände über die Anfeindungen, denen er zeitlebens ausgesetzt war. Ein anderer freier Geist, der Schriftsteller Stendhal, ätzte, die Akademiker hätten wohl Angst vor dem sprachlich Vielbeschlagenen, sie, die nicht einmal das Lateinische passabel beherrschten.
Aus heutiger Sicht wirken diese Zankereien und Gehässigkeiten allesamt nichtig. Von Bedeutung erscheint einzig noch Champollions Disput mit Thomas Young (1773-1829). Das britische Universalgenie begann Ende 1814, sich intensiv mit dem Stein von Rosette zu beschäftigen. Diese (leider unvollständige) Stele war während Bonapartes Ägyptenexpedition entdeckt und nach der Niederlage durch die Briten beschlagnahmt worden. Sie enthält ein und denselben Text in griechischer Schrift, in Hieroglyphen und in sogenannten demotischen Zeichen – was schon damals namentlich daran erkannt wurde, dass dort, wo sich im Griechischen Königsnamen finden, in den beiden anderen Schriften Kartuschen stehen (d. h. von länglich-ovalen Linien umrandete Folgen von Hieroglyphen). Young fiel als Erstem die Ähnlichkeit zwischen einzelnen Hieroglyphen und demotischen Zeichen auf, was in ihm die Einsicht aufkeimen ließ, dass das Demotische eine Art Schreib- oder Kursivschrift des Hieroglyphischen ist. Auch begriff er, dass demotische Zeichen teils für Begriffe stehen, teils für Buchstaben. Den dritten Schritt, auch in der Hieroglyphenschrift phonetische Elemente zu vermuten, tat er freilich nicht. Bis heute wird Youngs Vorarbeit kontrovers diskutiert. Der Brite selbst hätte sich seinerzeit mehr Anerkennung durch den Franzosen gewünscht, würdigte das Bahnbrechende von dessen Leistung aber freimütig.
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In seinen letzten Lebensmonaten suchte Young vergeblich, ein demotisches Wörterbuch fertigzustellen. Auch Champollion sah nach der Rückkehr aus Ägypten – wie Bemerkungen an Freunde nahelegen – die Sanduhr ablaufen: Seine Gesundheit schwächelte zunehmend. Die Verwirklichung seiner späten Projekte erlebte er nicht mehr, weder die durch ihn angeregte Errichtung eines Obelisken aus Luxor auf der Pariser Place de la Concorde noch die Veröffentlichung einer ägyptischen Grammatik. Auch die Lehrtätigkeit am Collège de France, wo 1831 der weltweit erste Lehrstuhl für ägyptische Archäologie für ihn eingerichtet worden war, musste er nach drei Vorlesungen im Mai desselben Jahres entkräftet unterbrechen. Bei der fünften Vorlesung im Dezember brach er dann ohnmächtig zusammen; vier Tage später erlitt er einen Schlaganfall, dem bald ein zweiter folgte. Am 3. März 1832 starb der Übervater der Ägyptologie 41-jährig; sein obeliskförmiges Grabmal auf dem Père-Lachaise-Friedhof trägt die schlichte Inschrift „Champollion le Jeune“.
Spätestens an dieser Stelle wird die Erwähnung überfällig, dass es neben dem „jungen“ Champollion auch einen älteren gab. Jacques-Joseph (1778-1867), nach beider Geburtsort „Champollion-Figeac“ genannt, fungierte laut eigener Aussage sukzessiv als „Vater, Lehrer und Schüler“ des elf Jahre jüngeren Bruders. Ungleich präsenter in der Erziehung des Buben als die analphabetische Mutter und der trunksüchtige Vater, nahm er diesen während der Schuljahre in Grenoble unter seinem Dach auf, versorgte den Heranwachsenden mit geistiger Nahrung, öffnete dem angehenden Forscher die Türen der gelehrten Welt, diente dem aufgehenden Stern als eine Mischung aus Berater und Beichtvater, erledigte einen Gutteil der Korrespondenz des aus ganz Europa angeschriebenen Entzifferers der Hieroglyphen, führte während der anderthalbjährigen Abwesenheit des Ägyptenreisenden dessen Geschäfte, schloss der europaweit anerkannten Koryphäe am Ende die Augen und veröffentlichte zwei wichtige nachgelassene Schriften, die „Grammaire égyptienne“ und das „Dictionnaire égyptien en écriture hiéroglyphique“. Und das alles, ohne je zu klagen, frei von Neid und Eigennutz.
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Champollion ist das Paradebeispiel für einen großen Mann, der in der falschen Zeit lebte. Er war ein Liberaler in der Ära der Restauration, ein Bannerträger des Wissens in einer Epoche, die den Glauben über alles stellte. Zweimal hätten ihn seine politischen Ansichten schier ins gesellschaftliche Aus gebracht. Als der verbannte Napoleon im März 1815 nach Frankreich zurückkehrte, war Grenoble die erste Stadt, die er mit seinen Anhängern erreichte. Die Champollion-Brüder, die dort lebten, schlossen sich ihm mit Begeisterung an (vor allem der sonst so vorsichtige Champollion-Figeac). Nach dem Scheitern der „Hundert Tage“ brachte ihnen das den Schimpfnamen „Champoléon“ ein – und die zeitweilige Verbannung in ihr Geburtsstädtchen. Genau sechs Jahre später nahm Champollion le Jeune, inzwischen nach Grenoble zurückgekehrt, dann an einem antiroyalistischen Aufstand teil – und wurde nach dessen Niederschlagung prompt aus dem Schuldienst entlassen. Nur dank der Fürsprache einflussreicher Freunde entging er dem Kriegsgericht. Mittellos geworden, fand er in Paris beim Bruder Unterschlupf. Auf seine Art ein Glücksfall: So konnte er sich im Lauf der nächsten Jahre ganz der Entzifferung der Hieroglyphen widmen.
Doch auch die Forschertätigkeit erwies sich als nicht ungefährlich. In der Restaurationszeit war der Kreationismus in Frankreich Teil der Glaubenspflicht. Die bigotten Bourbonenbrüder Louis und Charles hielten sich an eine „Rückrechnung“, die die Sintflut um das Jahr 2200 v. Chr. ansiedelte. Ägypter lebten indes schon lang vor dieser Zeit, was auch Champollion bald dämmerte. Doch ein Wissenschaftler, der diese Tatsache öffentlich behauptet hätte, wäre umgehend aus all seinen Ämtern schassiert worden. So legte der Gelehrte seinem Protektor am Hof, dem Duc de Blacas, stillschweigend das Gelübde ab, das heikle Thema nicht zur Sprache zu bringen. Und auch seine an den Ufern des Nils gewonnene Überzeugung, die Religion der alten Ägypter sei ein Monotheismus gewesen, ebenso rein wie jener der Christen, behielt er für sich. Ohne sein Berufsethos zu verraten noch Fakten zu verdrehen, gelang es Champollion, die für Katholiken anstößigen Punkte so weit zu umgehen, dass Charles X. ihn zum Ritter der Ehrenlegion schlug – und Leo XII. ihm gar den Kardinalshut antrug (was der notorische Kirchengegner höflich dankend ablehnte)!
Es wäre jedoch falsch, in der Akkommodation des Gelehrten mit den Mächtigen einen Verrat an seinen erst revolutionären, später dann liberal-republikanischen Überzeugungen zu sehen. Vielmehr war Champollion – auch auf Druck des überlegteren Bruders hin – pragmatisch genug, um zu wissen, dass ein gewisser Grad an Biegsamkeit, ja Gefügigkeit nötig war, um hinreichend frei (und materiell abgesichert) forschen zu können. Von ähnlicher intellektueller Flexibilität zeugt seine Fähigkeit zum Lernen – und gegebenenfalls auch Umlernen – unter dem Einfluss „auf dem Feld“ gewonnener Erfahrungen. Im Lauf der Ägyptenreise fügte der Expeditionsleiter so seinem Glauben an den Fortschritt und an die Überlegenheit der europäischen, insbesondere französischen Zivilisation kritische, für seine Zeit klar fortschrittliche Nuancen an. Er beklagte gegenüber Muhammad Ali den Raubbau, den dieser, um das Land zu modernisieren, an seinen Untertanen wie am Kulturerbe betrieb. Der „Vizekönig“, dem jedes Verständnis für den Plunder aus der Pharaonenzeit abging, ließ zahllose Monumente abreißen und gedachte sogar, aus den Steinblöcken der Pyramiden Dämme zu bauen.
In einem Brief an den Herrscher drängte Champollion 1829 auf eine Regulierung der wissenschaftlichen Grabungen und auf ein striktes Verbot der Zerstörung oder Entstellung antiker Kulturstätten durch Fellachen oder europäische Spekulanten. Am Auftakt des Zeitalters des Frühimperialismus bildet dieses Schreiben ein erstes, bemerkenswertes Dokument des internationalen Kulturgüterschutzes. Auf die Komplexität der gegenwärtigen Rückgabe-Diskussion wirft das Beispiel Champollions ein faszinierendes Streiflicht. Die Ägypter von 1828 sahen sich mitnichten als Nachfahren des Pharaonenvolkes; dessen materielles Erbe galt ihnen nur deshalb nicht als wertlos, weil es sich zu Geld machen ließ. Der Louvre-Konservator seinerseits zögerte nicht, im Lauf der Jahre Abertausende von Objekten für das Museum kaufen zu lassen. Aber er tat es, um die Überreste einer Zivilisation zu retten, die er aus tiefster Seele liebte. Und die er besser verstand als jeder lebende Bewohner des Nil-Lands.
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