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marczitzmann

Der Unbekannte im Zinnsarkophag

Ein weiteres Rätsel von Notre-Dame gelöst? Bei einem 2022 am Vierungskreuz ausgegrabenen Leichnam könnte es sich um jenen des epochalen Dichters Joachim Du Bellay handeln.


Kein Mensch habe etwas übrig für Dichtkunst. Den Herrschenden diene sie zum Spott, die Wissenden hielten sich fern von ihr, Höflingen verschaffe sie keinen Profit, Arbeitsleute könne man damit nicht bezahlen.


Klagt da einer über die Kulturferne des Zeitalters von TikTok? Nein, bereits vor gut 460 Jahren, als in den Palästen und Hütten noch keine Bildschirme flimmerten, inspirierte die Geringschätzung für „das Handwerk der Lyra“ den französischen Versschmied Joachim Du Bellay (um 1522 bis 1560) zu dem elften Sonett seines letzten Gedichtbands, „Les Regrets“. Der Titel benennt den klagenden, in der Rückschau auf das eigene Leben von Bedauern erfüllten Ton der meisten Poeme – Du Bellay war in den letzten Jahren seines kurzen Lebens ertaubt und litt an furchtbaren Kopfschmerzen.


2022 wurden bei Grabungen am Vierungskreuz von Notre-Dame zwei Sarkophage entdeckt. Die Leiche im ersten konnte sogleich als jene eines Stiftsherrn des 17. Jahrhunderts identifiziert werden. Doch bis gestern war unbekannt, wer im zweiten lag, der hier zu sehen ist. (Bild: Denis Gliksman/Inrap)

Beide Leiden rührten von Knochentuberkulose und von chronischer Hirnhautentzündung her – was wir seit Dienstag einigermaßen gesichert zu wissen glauben, machte das Institut national de recherches archéologiques préventives (Inrap), Frankreichs präventiv-archäologischer Staatsdienst, da doch den Sensationsfund von Du Bellays Leichnam in einem der beiden Zinnsarkophage bekannt, die im April 2022 am Vierungskreuz von Notre-Dame de Paris ausgegraben worden waren. In der Kathedrale wurden zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert Tausende von Laien und Geistlichen bestattet, fast ausnahmslos (alte) Männer.


Luftaufnahme der Grabungsarbeiten (Bild: Denis Gliksman/Inrap)

Du Bellay, Spross einer Adelsfamilie, war selbst eine Zeitlang Stiftsherr von Notre-Dame. Vor allem jedoch hatte er einen ehemaligen Bischof von Paris zum Großvetter, der zum Kardinaldekan in Rom aufgestiegen war, wohin der Dichter ihm zwischen 1553 und 1557 folgte. Neben diesem hätte er laut Domregister in der Chapelle Saint-Crépin von Notre-Dame beerdigt sein sollen – doch fand man seinen Sarkophag dort 1758 nicht. War Du Bellay zwischenzeitlich umgebettet worden?


Wir wissen es nicht, wie auch das Inrap den letzten Beweis schuldig bleibt, dass es sich bei dem Leichnam tatsächlich um jenen des neben Pierre de Ronsard bedeutendsten französischen Dichters der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts handelt. Für diese Annahme sprechen neben der Tatsache, dass Du Bellays Bestattung in der Kathedrale dokumentiert ist, und neben den erwähnten, seltenen Pathologien des ausgegrabenen Leichnams, die mit dem Krankheitsbild des Poeten kongruieren, auch das ungewohnt junge Alter des einbalsamierten Toten sowie eine Deformation von dessen Hüftknochen, die auf eine intensive Reitpraxis schließen lässt. Du Bellay starb mit rund 35 Jahren und war ein gestandener Reiter – er legte einmal die Strecke zwischen Paris und Rom auf dem Pferderücken zurück.


Nur Aristokraten wie Du Bellay wurden seinerzeit nach ihrem Tod obduziert (wovon der zersägte Schädel zeugt) und einbalsamiert. (Bild: Denis Gliksman/Inrap)  

Die literaturgeschichtliche Bedeutung des Poeten gründet zum einen in der gemeinsam mit den sechs anderen Mitgliedern der Pléiade-Dichtergruppe unternommenen Erhebung des Französischen zu einem Idiom der Lyrik, das dem durch Dante, Boccaccio und Petrarca geadelten Italienischen ebenbürtig zur Seite stehen konnte. Zum andern aber auch in dem seinerzeit ungewohnt persönlichen Tonfall und autobiografischen Gehalt vieler seiner Gedichte. Tierfreunde bewundern in Du Bellay so den Autor zweier der am liebevollsten beobachteten und am lebendigsten formulierten Klagelieder, die je geschrieben wurden – der beiden „Epitaphe“, so der vom Dichter gewählte Titel, für seinen Hund Peloton und für seinen Kater Belaud.

 

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