Eindrücke vom Festival Ravel en pays basque
Maurice Ravel wurde 1875 in dem baskischen Fischerdorf Ciboure geboren, das mit dem doppelt so großen Saint-Jean-de-Luz ein kleinstädtisches Kontinuum bildet. Der Komponist sah sich zeitlebens als eine Art Doppelbürger: Neben seiner Identität als Franzose – in der Spielart des hauptstädtisch-elitären Kosmopoliten – strich er stets auch seine Angehörigkeit zum Baskenvolk heraus. Dieses essenzielle Element von Ravels Physiognomie als Mensch wie als Schöpfer hat Étienne Rousseau-Plotto 2004 in seiner über dreihundertseitigen Studie „Ravel. Portraits basques“ erschöpfend ausgeleuchtet. Der künftige Komponist hörte in seinen prägenden ersten Lebensmonaten ausschließlich Baskisch sprechen, ein Idiom, das er später mündlich und schriftlich beherrschte. Er kehrte vom Jünglingsalter an regelmäßig aus Paris ins Baskenland zurück, verbrachte namentlich alle Sommer zwischen 1911 und 1914 in Saint-Jean-de-Luz (das er baskisch „Donibane Lohizune“ nannte). Er liebte die pikante regionale Küche sowie Weine wie Irouléguy oder Txakoli, erfreute sich an Promenaden und Ausflügen, Meerbädern, Pelota-Spielen und Fandango-Tänzen auf der Place Louis XIV von Saint-Jean-de-Luz. Das Klaviertrio und die dritte der Mallarmé-Vertonungen wurden in Gänze vor Ort geschrieben, etliche weitere Stücke zumindest in Teilen. Unter seinen sechs Kompositionen mit explizit baskischem Bezug finden sich Meisterwerke – aber bei Ravel ist fast alles Meisterwerk – wie der Schlusssatz des Streichquartetts, die Bacchanale von „Daphnis et Chloé“ und das Klavierkonzert. Letzteres ist aus einer unvollendeten „baskischen Rhapsodie“ mit dem sprechenden Titel „Zazpiak-bat“ hervorgegangen – übersetzt: „sieben in einem“, ein Verweis auf die sieben Provinzen des einen Baskenlandes dies- und jenseits der französisch-spanischen Grenze.
Doch bis auf eine 1930 schon zu Lebzeiten des Komponisten an dessen Geburtshaus angebrachter Tafel erinnerte nichts in Ciboure und Saint-Jean-de-Luz an ihn. Die Gründung des Festival Ravel en pays basque schuf dem 2020 Abhilfe. Am vierten Tag der heuer am 21. August eröffneten Festspiele interpretierte deren künstlerischer Leiter, der 43-jährige Toulouser Pianist Bertrand Chamayou, so in der Église Saint-Vincent direkt hinter Ravels Geburtshaus dessen pianistisches Opus diabolicum: das 1908 entstandene Triptychon „Gaspard de la nuit“. Wie andere baskische Barockkirchen mit ihren hölzernen Retabeln und Galerien schluckt auch diese die mittleren Frequenzen zugunsten der tiefen und erzeugt ein etwas mulmiges Klangbild. Die Trockenheit und angriffige Reaktionsschnelle, die Chamayou in seiner Studioaufnahme von 2015 dank sparsamem Pedaleinsatz und stupender Fingerfertigkeit in „Scarbo“ erzielte, dem berühmt-berüchtigten Schlussstück des Zyklus‘, wurden hier durch die Akustik vernebelt. Frappant wirkte indes der Sinn für die große Linie, der den Pianisten in allen drei Sätzen ein konsequent durchgehaltenes, eher zügiges Grundmaß wählen ließ, innerhalb dessen er all die Stimmhervorhebungen, Atmosphärenwechsel, Feinheiten der dynamischen Balance und der Artikulation unterzubringen wusste, für die andere auf Tempowechsel rekurrieren müssen.
Kontextualisiert wird Ravels Musik im Programmkonzept des Festivals durch jene seiner Zeitgenossen. Heuer namentlich durch Werke seines Lehrers, des vor hundert Jahren verstorbenen Gabriel Fauré. Dessen vielgespieltes Requiem erfuhr in der Gegenüberstellung mit Charles Gounods postumer „Messe de Clovis“ eine interessante Neubeleuchtung, wurde die Totenmesse doch so in den Zusammenhang der Neo-Renaissance- und spezifisch: Neo-Palestrina-Bewegung im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts gestellt. Faurés Requiem geht weit über diese Art von Wiederbelebungsversuch hinaus, der im Fall von Gounod eine Totgeburt zeitigte. Doch wird das Werk – wie hier durch das Ensemble Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet – in ganz kleiner Besetzung aufgeführt, findet auch dieser Aspekt, jener des Sprechend-Spirituellen, tönende Erfüllung.
Neben den Zeitgenossen setzt das Festival auch Ravels musikalische Vorfahren und Nachfolger aufs Programm. Ersteren widmen Jordi Savall und sein Concert des Nations am 3. September ein spannendes Konzert, in dem durch Savall arrangierte Arbeiten des „maître de Ciboure“ mit solchen spanischer und französischer Barockkomponisten alternieren werden. Letzteren sind – ein mutiges Unterfangen – ganze Abende mit ausschließlich zeitgenössischer Musik gewidmet: mit Werken von Cage, Ligeti, Stockhausen, Xenakis oder, wie heuer, Michael Jarrell und George Benjamin. Letztgenannter war so namentlich mit seiner schaurig-schönen Märchenoper „Into the Little Hill“ vertreten, im letztes Jahr eröffneten, akustisch idealen Centre culturel Peyuco Duhart aufgeführt durch das Ensemble intercontemporain unter der geschmeidigen Leitung von Pierre Bleuse sowie durch zwei leider das Englischen kaum mächtige Sängerinnen. Die gesangliche Grundanlage, erfindungsreiche Harmonik und hochverfeinerte Instrumentierung des Werks gemahnen an Ravel. In einer Podiumsdiskussion pries Benjamin dessen „nobles und ergreifendes Berufsverständnis“, das auf Bescheidenheit, Offenheit und Streben nach Perfektion basiere – ein Selbstporträt in Form einer Liebeserklärung.
Hervorgegangen ist das Festival Ravel en pays basque aus der Fusion von 1960 gegründeten, eher profillosen Musikfestspielen mit der sieben Jahre jüngeren Académie Ravel. Zu den Lehrern dieser Sommerkurse zählen heuer die Bratscherin Veronika Hagen, der Cellist Marc Coppey und die Sopranistin Véronique Gens. Der amtierende künstlerische Leiter des Festival Ravel nahm selbst viermal als Schüler an der Akademie teil – seine Familie besitzt ein Ferienhaus in Saint-Jean-de-Luz. Im Gespräch zeigt sich Chamayou stolz darauf, Komponisten wie Benjamin, Jarrell oder (letztes Jahr) Helmut Lachenmann leibhaftig nach Saint-Jean-de-Luz zu bringen – und so an die Zeiten anzuknüpfen, als Prokofjew, Rachmaninow, Strawinsky und Szymanowski an der Baskenküste mit Interpreten wie Alfred Cortot, Artur Rubinstein, Fjodor Schaljapin und Jacques Thibaud verkehrten. Mit einem Boulez-Schwerpunkt 2025 und einer Kurtág-Hommage 2026 werden auch die kommenden Ausgaben diesen zeitgenössischen Einschlag weiter pflegen. Zudem sieht der Träger des Kompositionspreises der Akademie jeweils im Folgejahr ein Werk aufgeführt – heuer handelt es sich um den 1997 geborenen Südafrikaner Christiaan Willemse. Die Uraufführung einer Kammeroper des Basken Ramon Lazkano nach der romancierten Ravel-Biografie von Jean Echenoz verbindet nächstes Jahr gar die Feier des 150. Geburtstags des „maître de Ciboure“ mit der Verwirklichung eines Wunschs von Chamayou: neben Solo- und Kammermusikabenden, Ensemble- und Orchesterkonzerten auch multidisziplinäre Produktionen zu präsentieren.
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