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marczitzmann

Der Couturier als Künstler

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Einundfünzig Yves Saint Laurent-Kreationen in sechs Pariser Museen


Das hat man in Paris noch nie erlebt: Fünf der größten öffentlichen Kunsttempel spannen mit einem Privatmuseum zusammen, um eine auf sechs Standorte verteilte Ausstellungsreihe zu präsentieren. „Yves Saint Laurent aux musées“ ist diese mehr programmatisch denn originell betitelt. Ihr Grundansatz: Die Konfrontation von Kreationen des 2008 verstorbenen Couturiers mit ausgewählten Kunstwerken innerhalb des regulären Museumsparcours. Am 29. Januar eröffnet, feiert die durch die Fondation Pierre Bergé – Yves Saint Laurent getragene Veranstaltung den sechzigsten Jahrestag jenes Montags im Jahr 1962, als der Couturier seine erste Kollektion unter eigenem Namen präsentierte.


Aperçus von deren Vorbereitung geben im Musée Yves Saint Laurent Paris eine Handvoll Schwarzweißfotos, die den Fünfundzwanzigjährigen unter Mannequins und anderen Mitarbeitern zeigen: im obligaten weißen Kittel über dem ebenso unerlässlichen Anzug, mit längerem Haar als vordem und mit der wuchtigen Brille aus Schildpatt, die er damals zu tragen begann. Im Eingangssaal hängt hier auch eine signierte Guaschzeichnung des legendären Logos, das der Grafiker Cassandre für das Ende 1961 gegründete Modehaus entworfen hat.


Cassandre (Adolphe Jean Marie Mouron): Logotyp des Modehauses Yves Saint Laurent, 1961. "Cassandre war der grösste, der beste Grafiker seiner Zeit", erklärte Saint Laurents Geschäfts- und Lebenspartner Pierre Bergé. "Das erste, was wir getan haben, noch bevor wir das Geld zusammenkratzten oder unsere Mitarbeiter aussuchten, war ihn zu treffen. Er hatte das Logo von Christian Dior entworfen und war seitdem in Vergessenheit geraten. Das war 1961. Er hat uns einen einzigen Vorschlag gemacht, jenen der ineinander verschränkten Initialen." (Bild: zit.)

Es folgen dreihundert Zeichnungen aus vier Jahrzehnten, die Saint Laurent für seine große Retrospektive im Pariser Centre Pompidou ausgewählt hatte. Diese war aus Anlass seines Rückzugs 2002 ausgerichtet worden, welche die Schließung der Couture-Abteilung des – da schon längst weltumspannenden – Unternehmens nach sich zog. Lässt man den Blick über die mit knappen, geschmeidig-eleganten Strichen bemalten und teils opulent kolorierten Blätter schweifen, findet man die ganze Bandbreite der durch den Schöpfer neuerfundenen Kleidertypen – Smoking, Overall, Caban- und Safarijacke – und die volle Palette seiner die Epochen und Weltgegenden überspannenden Inspirationsquellen.


Yves Saint Laurent: Entwürfe für die Capes "Hommage à Georges Braque", Frühling/Sommer 1988. (Bild: zit.)

In den folgenden Sälen bestaunt man dann Schnittmuster, hölzerne Schuhformen, gezeichnete und geschnitzte Hüte, Halstuch-Modelle auf Löschpapier, lebensgroße Büsten von Kundinnen sowie Knopf-Kostproben, Stickerei-Muster und Polaroidfotos, zu schwindelerregend umfangreichen Serien angeordnet. Das Ganze evoziert eine in Richtung Abstraktion wie Surrealismus schielende Mischung aus Riesenreliquiar und Insektensammlung. Man hat innerhalb der Mauern des ehemaligen Firmensitzes seit seiner Verwandlung erst in eine Stiftung (2004), dann in ein Museum (2017) schon weniger anekdotische, stringenter strukturierte Ausstellungen besuchen können. Aber sieht man die Schau nicht als ein geschlossenes Ganzes an, sondern lediglich als das Präludium einer sechssätzigen Suite, erfüllt sie ihren Zweck: Den Grundton setzen und Lust auf mehr machen.


Der zweite Satz hat ein grandioses Interieur zum Schauplatz: die Anfang 2020 spektakulär entstaubte Galerie d’Apollon im Louvre. Wer diesen emblematischen Riesenraum des ehemaligen Königspalasts nicht kennt, male sich im Kopf eine Kombination der Begriffe „Sonnenkönig“ und „Kronjuwelen“ aus – die Realität ist ein zigfaches überwältigender. Wir wollen diesen Satz „Courante“ nennen, weil man die Galerie im Laufschritt durchqueren kann: Sie zeigt lediglich vier Damenwesten. Diese aber haben es in sich: Ihr Gold-, Silber- und Brillantfunkeln stellt die in benachbarten Vitrinen prangenden Diamants de la Couronne schier in den Schatten, derweil die vegetabilisch verschlungenen Arabesken ihrer Stickerei-Dekors auf die zur geometrischen Abstraktion tendierenden Pflanzenmotive der umgebenden Holztäfelungen verweisen. Einen adäquateren Schrein hätten diese arbeitsintensiv kunsthandwerklichen Couture-Kreationen nicht finden können.


Yves Saint Laurent: goldbestickte Weste aus schwarzem Gazar, Frühling/Sommer 1980. (Bild: zit.)

Der dritte Satz unserer postmodern bunt zusammengewürfelten Suite evoziert eine Quadrille im Stil der tanzbaren Wagner-Kompaktierungen von Emmanuel Chabrier, Gabriel Fauré und André Messager. Wieder ist der Schauplatz von höchstem Reiz: Im Salon de l’horloge des Musée d’Orsay zeichnen sich vor dem Hintergrund eines der auf die Seine hinausblickenden raumhohen Uhrwerke des ehemaligen Bahnhofsbaus die Silhouetten von fünf Damensmokings und zwei Ballroben mit Belle-Époque-Anmutung ab. Letztere wurden für den „Bal Proust“ geschaffen, den Marie-Hélène und Guy de Rothschild 1971 in ihrem Château de Ferrières gaben. Von zwei monumentalen Toulouse-Lautrec-Tableaus herab blicken die Tänzer La Goulue und Valentin le Désossé mit plebejischem Spott auf die noblen Mannequins.


Zwei Damensmokings und ein Ballkleid im Salon de l'horloge des Musée d'Orsay. (Bild: zit.)

In einem Nebensaal treten Saint-Laurents Kostümentwürfe für den „Bal Proust“ und Cecil Beatons historisierende Schnappschüsse von Gästen wie Marisa Berenson und Jane Birkin in beziehungsreichen Dialog mit Nadar-Fotos von Sarah Bernhardt und anderen Schauspielerinnen und Schönheiten aus Prousts mondänen Jahren.


Yves Saint Laurent: Kostümentwurf für Marie-Hélène de Rothschilds Kostüm beim "Bal Proust", 1971. (Bild: zit.)

Yves Saint Laurent: Skizzen für den von Proust inspirierten "Bal des Têtes" des Barons Alexis de Rédé, 1957. (Bild: zit.)

Auf ein Intermezzo im Picasso-Museum – drei Westen und ein Abendkleid neben Werken des Andalusiers, die augenscheinlich Pate gestanden haben – folgt im Musée d’art moderne de Paris der langsame Satz unserer Suite: ein weit ausschwingendes Air. Drei voluminöse Säle mit jeweils nur einem großformatigen Wandbild laden zur meditativen Betrachtung ein. Die 600 Quadratmeter von Raoul Dufys geschwungenem Monumentaldekor „La Fée Électricité“ mit ihren gleichmäßigen Flächen von Rot, Blau, Gelb und Grün bilden einen traumhaften Prospekt für drei Modelle aus Saint Laurents Spätzeit. Deren Mischung aus Opulenz (in den Farbkombinationen) und Reduktion (in der Ökonomie des Schnitts) raubt einem stets aufs Neue den Atem. Ein schier spirituelles Erlebnis, wie die Vermählung aus Goldbronze und Smaragd, Limette und Fuchsie, Narzisse und Absinth dieser Satin-Ensembles hier sanft zu leuchten beginnt. Im ersten Matisse-Saal nimmt dann ein Ensemble die Nuancen von Blaugrau der unvollendeten Version des Wandbilds „La Danse“ auf, derweil im hinteren vor der zweiten, vierfarbigen Fassung drei streng schwarzweiße Kreationen mit einander kreuzenden Streifenmustern oder Taft-Besätzen in abstrakten Formen auf das Graphische dieser – mithilfe von Scherenschnitten entstandenen – Komposition anspielen.


Originale und "Kopien" im Picasso-Museum. (Bild: zit.)

Drei späte Kreationen vor Raoul Dufys Monumentaldekor "La Fée Électricité" im Musée d'art moderne de Paris. (Bild: zit.)

Eine ausgedehnte Chaconne beschließt die Saint-Laurent-Suite im Centre Pompidou. Das apotheotische Finale vereint fünfzehn der insgesamt einundfünfzig Modelle, die in den sechs Sätzen der Ausstellungsreihe zu bestaunen sind. Da der Couturier sich hauptsächlich durch Werke der klassischen Moderne inspirieren ließ und diese Epoche unter Frankreichs Staatsmuseen durch das Musée national d’art moderne im Centre Pompidou abgedeckt wird, ist die Zahl der Bezugspunkte hier besonders groß. Nicht weniger als dreizehn Gegenüberstellungen laden so zum Vergleich ein.


Einige dieser Konfrontationen basieren auf rein formalen Ähnlichkeiten. So jene eines Raphia-Mantels aus der „afrikanischen“ Kollektion von 1967 mit André Bretons von Stammeskunst überquellendem Atelier. Oder jene eines pechschwarzen Abendkleids mit konischen Brüsten aus derselben Kollektion mit Skulpturen aus Giacomettis surrealistischer Periode. Oder auch jene von Op-Art-Kleidern der späten 1960er Jahre mit Arbeiten von Agam und Victor Vasarely sowie jene der „Robe Hommage au pop art“ von 1966 mit vier kleinen Ölbildern von Etel Adnan, die genau dieselbe orangefarbene Sonne zeigen.


Etel Adnan: Ohne Titel, 2010. Yves Saint Laurent: Robe Hommage au pop art, Herbst/Winter 1966. (Bild: zit.)

Manchmal lässt sich eine Verwandtschaft auf der Ebene der Intention erkennen. Martial Raysses billige Ausstaffierung von Ingres‘ „Grande Odalisque“ bedient so – gezielt – einen ähnlich „schlechten“ Geschmack wie Saint Laurents skandalumwitterte „Collection Quarante“ von 1971. Diese verwies auf die Mode der frühen 1940er Jahre und schien Susan Sontags „ultimative Behauptung über Kitsch“ zu bekräftigen: „It’s good because it’s awful.“ Doch in vielen Fällen ging der Couturier noch weiter, bis hin zum Pasticcio (von Braque, Léger, Picasso – und natürlich von Mondrian mit den legendär gewordenen Cocktailkleidern von 1965) oder, im Fall von Matisses „Blouse roumaine“, gar bis zur „pinselstrichgetreuen“ Transposition in die dritte Dimension!


Henri Matisse: La Blouse roumaine, 1940. Yves Saint Laurent: durch Matisse inspiriertes Ensemble, Herbst/Winter 1981. (Bild: zit.)

Piet Mondrian: Komposition in Rot, Blau und Weiss II, 1937. Yves Saint Laurent: Kleid Hommage à Piet Modrian, Herbst/Winter 1965. (Bild: zit.)

„Saint Laurent aux musées“ ist eine beispiellose Veranstaltung. Besuchergerecht mag man ihr versprengtes Format indes nicht nennen. Wer sich in Paris und in den betreffenden Museen gut auskennt, kann die sechs Standorte in vier Stunden abhaken: Zu Fuss sind das rund zehn Kilometer. Mangels eines gemeinsamen Tickets muss man fünfmal Eintritt zahlen (der Eintritt ins Musée d’art moderne de Paris ist frei) – macht, zum Volltarif, stolze 71 Euro! Niemand bis auf fanatische Fashionistas nimmt derlei physische und finanzielle Anstrengungen auf sich. Hätte man eine klassische Ausstellung an einem Ort ausgerichtet, wären wohl nicht nur gezielt am Thema „Saint Laurent und die Kunst“ interessierte Besucher in ungleich größerer Zahl herbeigeströmt. Das erprobte Format hätte auch engere Verknüpfungen, einen einheitlicheren Diskurs, eine stringentere Gesamtkonzeption ermöglicht. Aber vielleicht liefert ja der – frühestens für April in Aussicht gestellte – Katalog noch eine souveräne Synthese nach.


Saint Laurent aux musées. Die Ausstellungen in sechs Pariser Museen enden gestaffelt zwischen dem 15. April und dem 18. September. Der Katalog soll ab April erscheinen und 39€ kosten.

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