Vom Schauprozess gegen Marie-Antoinette bis zum Sturz Robespierres: Das Pariser Musée Carnavalet beleuchtet das Jahr II des republikanischen Kalenders.
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautete eine Devise der Französischen Revolution, die als Wahlspruch der Dritten, dann der Fünften Republik die Zeiten überdauert hat. „Gleichheit“ begreift auch „Einheitlichkeit“ mit ein. Die über achthundert oft bloß an eine Region, wo nicht gar lediglich an eine Stadt gebundenen Maßeinheiten, mittels derer bis 1789 im Königreich Längen, Flächen, Gewichte, Volumen, Devisen, Textilstoffe und so weiter gemessen wurden, ersetzte die Republik zwischen 1793 und 1795 durch solche, die teils bis heute gültig sind, und das weltweit – namentlich Gramm, Liter und Meter. Andere Reformen waren hingegen kurzlebig. So die Einführung des republikanischen Kalenders mit seinen bildhaften Monatsnamen, die auf jahreszeittypische Gebräuche oder Naturphänomene verwiesen wie Weinlese („Vendémiaire“), Schneefall („Nivôse“), Keimung („Germinal“) und Ernte („Messidor“). Das Jahr I begann am Tag der Ausrufung der Republik, dem 22. September 1792; der Revolutionskalender blieb bis Ende 1805 in Gebrauch.
Das Pariser Stadtmuseum, das Musée Carnavalet, widmet dem Jahr II in der seinerzeit größten Kapitale Kontinentaleuropas jetzt eine facettenreiche Ausstellung. Auf 350 Quadratmetern glänzt „Paris 1793-1794, une année révolutionnaire“ mit 260 Exponaten, von der Tapete mit Revolutionsmotiv bis zum rostigen Guillotinebeil. Die zwölf Monate zwischen dem 22. September 1793 und dem 21. September 1794 waren die wechselreichsten, auch blutigsten der gesamten Revolutionszeit, die – konservativ gerechnet – volle zehn Jahre dauerte, vom Sturm der Bastille bis zu Bonapartes Staatsstreich. Etliche Episoden des Jahrs II sind noch heute vielen ein Begriff: die Enthauptung von Marie-Antoinette, die Terreur mit ihren Massenhinrichtungen, der Aufstieg und Fall von Maximilien Robespierre (1758-1794).
François Furet schrieb in seiner bei ihrem Erscheinen 1988 selbst revolutionären Langzeitbetrachtung der Revolution (die die 110 Jahre zwischen 1770 bis 1880 abdeckt), diese habe keine großen Männer à la Cromwell oder Washington hervorgebracht; groß sei das Ereignis an sich gewesen. Doch Robespierre verdiente mehr als jeder andere Protagonist des Großereignisses das Epitheton „grand homme“ – mehr als der visionäre Theoretiker Sieyès, mehr als der geniale, doppelgesichtige Diplomat Mirabeau, und gewiss mehr als der sanguinische Demagoge Danton. Robespierre gelang es als Einzigem, die Macht peu à peu zu besetzen und sie wenige Monate lang sogar auszuüben. Privat ein unbeschriebenes Blatt, als Rechtsanwalt im Provinznest Arras bis 1788 ein konformistischer Aufklärer unter vielen, entpuppte er sich nach Einberufung der Generalstände ein zielstrebiger Stratege und machiavellistischer Machtpolitiker.
Im Jahr II, schreibt Furet, verkörperte der „Unbestechliche“ die Spitze einer Pyramide von Identitäten: „Das Volk ist in der Konvention [dem damaligen Namen des Nationalparlaments], diese ist im Wohlfahrtsausschuss, welcher bald in Robespierre sein wird.“ Am 8. Juni 1794 gab der damalige Präsident der Konvention so den Hohepriester bei einer grandiosen „Feier des Allerhöchsten Wesens“, bei der er Allegorien des Ehrgeizes, der Selbstsucht, der Zwietracht, der falschen Schlichtheit, nicht zuletzt des Atheismus‘ in Brand steckte (die Revolution war gegen die Kirche, aber nicht en bloc gegen den Glauben).
Wie mag die Stimmung unter den Tausenden damaliger Teilnehmer gewesen sein? In den sieben Wochen bis zu Robespierres Sturz am 27. Juli 1794 wurden in Paris 1436 Verurteilte hingerichtet (landesweit waren es im Jahr II gut 17 000). Manche Historiker nennen diesen frühsommerlichen Blutrausch, der das vorangegangene Halbjahr der Terreur vergleichsweise moderat erscheinen ließ, die „Grande Terreur“ (beide Begriffe sind umstritten). Das im März 1793 installierte Revolutionstribunal war seit dem 10. Juni 1794 definitiv zum Instrument des Staatsterrors gegen „Volksfeinde“ geworden: Den Angeklagten stand kein Anwalt mehr bei, es gab keine Beweisaufnahme, auf die Anhörung von Zeugen wurde oft verzichtet, das Urteil lautete „Freispruch“ oder – in vier von fünf Fällen – „Guillotinierung“. Eine nach Robespierres Fall entstandene Karikatur zeigt diesen beim Enthaupten des vorletzten Franzosen: des Scharfrichters! In Tat und Wahrheit starb der berühmt-berüchtigte Henker Sanson 1806 eines natürlichen Todes; dafür wurde der nicht minder gefürchtete Öffentliche Ankläger Fouquier-Tinville mit Robespierre gestürzt und nach einem langen Prozess 1795 exekutiert…
Die Ausstellung wartet mit etlichen Memorabilien illustrer Gefangener und/oder Geköpfter auf. Porträtbilder erinnern an den Dichter André Chénier, an Marats Mörderin Charlotte Corday, an die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges und an den jüngeren Sohn des hingerichteten Königspaars, der unter dem Beinamen „Louis XVII“ als traurige Fußnote in die Geschichte einging. Zeichnungen halten wie verwischte Lichtbilder das Konterfei von Danton und jenes des Führers einer radikalen Faktion, Jacques-René Hébert, auf dem Weg zum Schafott fest. Die eingekerkerten Künstler Hubert Robert und Jacques-Louis David verewigten ihre Impressionen aus dem Karzer in Öl.
Manchem Exponat eignet schier Reliquiencharakter – so einem Kiefer-Fragment, Marat zugeschrieben; einem Fetzen des Gürtels, den Marie-Antoinette bei ihrem Prozess getragen haben soll; dem Stilett, mit dem sich ein Volksvertreter nach seiner Verurteilung zum Tode das Leben nahm. Selbst ein ominöser Blutfleck starrt von einem Dokument, auf das Robespierre in der Nacht seines Falls, als er eine schwere Kopfwunde erlitt, die zwei ersten Buchstaben seines Namens setzte.
Doch genug der Schauergeschichten. Das Jahr II bietet mehr als das. Facettenreich beleuchtet die Schau das tägliche Leben im damals rund 640 000 Einwohner starken Paris. Um sich vom einstigen Adel abzusetzen, trug der vormalige Dritte Stand fußlange Hosen statt der „Culotten“ genannten Kniebundhosen – von daher der Name „Sansculotten“. Dieser bezeichnete indes mehr eine politische Einstellung denn einen ökonomischen Status: Die Sansculotten setzten sich aus Notleidenden, Manufaktur- und Heimarbeitern, Handwerkern und Gesellen zusammen, aber auch aus Ladenbesitzern und ehemaligen Bourgeois. Ihr Ideengut war antiliberal und extremistisch, was die Schau nicht hinreichend herausarbeitet. Die Terreur bildete – auch – eine Reaktion der Konvention auf den höchst handgreiflichen Druck der Sansculotten. Um sich nicht von links überrennen zu lassen, übernahmen die um ihre Autorität besorgten Volksvertreter im September 1793 das Gros der radikalen Forderungen der 48 Sektionen des Pariser Stadtvolks.
Erst die damit einsetzende Terreur vermochte den rekurrenten Gewaltstreichen der Basis (genauer: einer organisierte Minderheit des Stadtvolks) ein Ende zu bereiten. Freilich um den Preis einer zentralisierten Diktatur, eines De-facto-Terrorregimes, das die hehrsten Vorsätze – auf Papier gebettet in der Verfassung vom 24. Juni 1793 – kurz nach ihrer Proklamierung suspendierte. „Aufge(sc)hoben, bis wieder Frieden herrscht“, hieß es so bald nach der Verabschiedung der sogenannten „Constitution montagnarde“, die ein ellenlanger Katalog von Grundrechten begleitete. Krieg herrschte im Jahr II sowohl im Inneren – namentlich in der aufständischen Vendée und im abtrünnigen Lyon – als auch im Äußeren: Die Republik kämpfte gegen Österreich-Ungarn, Preußen, Großbritannien, Spanien, Portugal, die Vereinigten Niederlande sowie etliche Staaten in deutschen und italienischen Landen! Doch viele Revolutionäre begrüßten den militärischen Konflikt: Sie erhofften sich von ihm den Effekt eines politischen Beschleunigers.
Die Schau, auf Paris fokussiert, erwähnt das nur am Rande. Dafür beleuchtet sie die Kleiderordnung (wer Grün trug, war suspekt; die trikolore Kokarde am Hut war Vorschrift); die (Un-)Kultur des Überwachens und „zivilen Denunzierens“; die grassierende Paranoia samt der damit einhergehenden Wut, (imaginäre) Verschwörungen zu zerschlagen; die „republikanischen Gastmahle“, bei denen die Teilnehmer einander an Hurrapatriotismus überbieten mussten. Ja, selbst die Titel der revolutionären Opern und Theaterstücke tönen irgendwie gezwungen: „Die Apotheose des jungen Barra“ (ein kindlicher Märtyrer des Aufstands), „Claudine oder Der kleine Kommissionär“.
Die bedeutendsten kulturellen Hervorbringungen des Jahrs II sind – nimmt man die rhetorisch oft gehaltvollen Reden von Danton, Robespierre, Vergniaud und anderen Mitgliedern der Konvention aus –, wie's scheint, Jacques-Louis Davids komisch-kuriose Kostümentwürfe für Citoyens und ihre gewählten Vertreter sowie François-Joseph Gossecs trötend martialisches divertissement lyrique „Le Triomphe de la République“. Vergleicht man die ungehobelte Güte dieser Hervorbringungen mit dem hochgezüchteten Raffinement der Kunstproduktion der späten Louis-XVI-Zeit – und insbesondere mit den Wunderwerken, die Architekten wie Richard Mique, Dekorateure wie die Brüder Rousseau, Gärtner wie Antoine und Claude Richard und Möbelbauer wie Georges Jacob und Jean-Henri Riesener für Marie-Antoinette in Versailles schufen –, wirkt die Fallhöhe bestürzend.
Die Ausstellung endet mit dem bekanntesten Tableau der Malerin Nanine Vallain: einer Allegorie der Freiheit, gespickt mit jakobinischen Symbolen. In der rechten Hand hält diese Verkörperung der Liberté aus dem Jahr II die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Ein in Bronze gebundenes Exemplar dieses grundlegenden Textes findet sich ganz am Anfang der Schau: Es wurde 1793 offiziell eingestampft.
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