Europas größter privater Kulturbetreiber, Culturespaces, begann 1990 ganz traditionell mit Monumenten und Museen. Heute setzt das Unternehmen auf „immersive Ausstellungen“ in ikonischen Locations.
Wie ein Lichtvogel aus dem erkalteten Hochofen: Am 28. Januar wurde in Dortmund der Phoenix des Lumières eröffnet. Untergebracht ist diese Kulturattraktion neuer Art in einer ehemaligen Gasgebläsehalle des vor einem Vierteljahrhundert stillgelegten Hüttenwerks Phoenix-West. Die Phoenixhalle, ein 1905 errichteter, durch drei Satteldächer gekrönter Ziegelsteinbau, beherbergt nunmehr auf zweitausendzweihundert Quadratmetern ein Zentrum für digitale Kunst. Im Dunkel spazieren Besucherinnen und Besucher da durch eine halb phantasmagorische, halb handfest greifbare Landschaft voller industrieller Relikte und Nachbauten: von der Decke baumelnde Lasthaken, metallene Trägerstrukturen, turmartige Winderhitzer… Hundert Videoprojektoren projizieren buntbewegte Klimt- und Hundertwasser-Bilder auf die bis zu dreizehn Meter hohen Wände, knapp vierzig Lautsprecher spielen dazu Mahler, Lehár und Philip Glass.
Der Phoenix des Lumières ist der jüngste Ableger des französischen Unternehmens Culturespaces. Und sein erster Standort in Deutschland (ein zweiter, Port des Lumières genannt, soll 2024 in der Hamburger HafenCity eröffnet werden). Mit vierhundert Mitarbeitern, sechs Millionen Besuchern und einem Umsatz von siebzig Millionen Euro (alle Zahlen für 2022) rühmt sich Culturespaces, der größte private Kulturbetreiber Europas zu sein. Und in seinem Heimatland der fünftgrößte hinter den öffentlichen Betrieben Louvre, Centre des monuments nationaux, Versailles und Eiffelturm. Ursprünglich machte das 1990 durch Bruno Monnier gegründete Unternehmen im Auftrag von Gebietskörperschaften oder wissenschaftlichen Gesellschaften diesen gehörende Liegenschaften für die Öffentlichkeit zugänglich: den Papstpalast von Avignon, die römischen Monumente von Nîmes und das Théâtre antique von Orange für die entsprechenden Stadtverwaltungen, die Villa Ephrussi de Rothschild in Saint-Jean-Cap-Ferrat für die Académie des beaux-arts, die Villa Kérylos in Beaulieu-sur-Mer für das Institut de France...
Doch das „angelsächsische“ Modell zeigte seine Grenzen, als Culturespaces – zum Beispiel nach Mehrheitswechseln in Gemeinderäten – die Zuständigkeit für einige der genannten Liegenschaften (und noch für weitere) verlor. Ein Fundament für nachhaltigere Ertragssicherheit legte Bruno Monnier 2012 mit der Übernahme der Licht- und Tonschauen in den Steinbrüchen des Dörfchens Les Baux-de-Provence. Dort hatte Albert Plécy, Leiter des Fotomagazins „Point de vue“, 1975 sogenannte sons et lumières eingeführt, mit Musik unterlegte öffentliche Bilderprojektionen auf die Kalkwände der Carrières du Val d’Enfer. Plécys Enkel und dessen Frau brachten das Unternehmen zum Florieren: Mit Cézanne-, Picasso- und Van-Gogh-Diaschauen zogen sie jährlich bis zu einer Viertelmillion Zuschauer an. Die umstrittene Art und Weise, wie Monnier – der seit 1992 das Schloss von Les Baux-de-Provence verwaltet – den historischen Veranstalter der sons et lumières abgelöst und dabei dessen Konzept und Mitarbeiter übernommen hat, ist bis heute Gegenstand von Gerichtsverfahren. Jedenfalls aber erwiesen sich die zu „immersiven Ausstellungen“ hochgerüsteten Bilderprojektionen als Publikumsmagneten erster Güte. 2018 wurde ein erster Ableger in Paris eröffnet, das Atelier des Lumières; bald folgten weitere in Amsterdam, Bordeaux, Dubai, Jeju (Südkorea), New York, Seoul und jetzt Dortmund. Zentren in Großbritannien, Japan, Kanada und Spanien sowie eine weitere Filiale in den USA sind in der Entwicklungsphase, so Monnier auf Anfrage. Geht es nach dem Präsidenten von Culturespaces, wird jede kaufkräftige Großstadt der Welt ihr Lumières-Zentrum erhalten, lieber früher als später. Dagegen will Culturespaces seine traditionellen musealen Liegenschaften bis auf das Pariser Musée Jacquemart-André und das Hôtel de Caumont in Aix-en-Provence nach und nach aufgeben.
Schauen wir uns eine „immersive Ausstellung“ näher an. „Dalí, l’énigme sans fin“ läuft seit Anfang Februar in den Bordelaiser Bassins des Lumières, dem in einem ehemaligen deutschen U-Boot-Bunker untergebrachten größten Zentrum der Gruppe. Die halbstündige Schau besteht aus zwölf Sequenzen. Im Prolog schlüpft Dalí aus einem Riesen-Ei wie der Zauberer aus dem Hut des Weißen Kaninchens. Ein Geisterkarren fährt durch die Einöde der „Wüsten-Trilogie“, Endstation: Cadaquès, wo alles anfing. In dem Fischerdörfchen an der Costa Brava, wo die Dalís zur Sommerfrische weilten, malte der Künstler 1910 sein erstes Bild – dem im Lauf der Jahre viele weitere folgten. Über die Schwester Anna Maria hinweg, die am Fenster lehnend aufs Meer blickt, fliegen wir ins Freie hinaus, ins Kopftheater des zum Museum mutierten Stadttheaters von Dalís Geburtstort Figueres. Rote Vorhänge und Skulpturen in Rundbogen-Nischen leiten über zur vierten Sequenz, die die Obsession des jungen Surrealisten für Millets Gemälde „L’Angélus“ illustriert.
Kolumbus‘ Flaggschiff wogt über die Netzhäute, dann gebiert eine Sturmwolke aus wuselnden Bienenschwärmen die Tigerträume der nackt schlummernden Gala.
Moskitobeinige Weltraum-Elefanten schweben enigmatisch über die Wasser der U-Boot-Boxen, Goldschmetterlinge zittern, Rubinherzen beben: Mae Wests Gesicht erscheint als Lebensraum.
Dann wird alles alt und gestrig, Fotos, Filme und die Frontseiten von Magazinen schwirren schwarzweiß über Wände und Boden, gewinnen peu à peu an Farbe und Eindringlichkeit; plötzlich sind wir zurück in den jungen Jahren, bei den zerfließenden Uhren, krückengestützten Schimären und Mondlandschaften von Cadaquès.
Doch eine Atomexplosion zersprengt das Gesicht der Geliebten zu Kugel-Planeten, die einander auf der Suche nach der verlorenen Form umkreisen. Das Altertum und alte Meister helfen weiter: Die griechisch-römische Mythologie nimmt Gala in ihren Pantheon auf, Raffael inspiriert dem späten Dalí stereoskopische Bilder. „You were caught on the crossfire / Of childhood and stardom”, singen die Pink Floyd, die den „paranoisch-kritischen“ Soundtrack der Show stellen.
Doch den Begriff „Show“, wo nicht gar „Spektakel“, verwendet man vor den Verantwortlichen von Culturespaces besser nicht. Gianfranco Iannuzzi, der künstlerische Leiter des Unternehmens, betont im Telefoninterview: „Eine ‚immersive Ausstellung‘ ist ein Sinneserlebnis, bei dem man sich momentweise vom Handybildschirm löst, um mit anderen physische, nicht virtuelle Empfindungen zu teilen“. Aus Iannuzzis Äußerungen spricht, wie aus allen Selbstcharakterisierungen von Culturespaces, das Bestreben, den Akzent aufs Künstlerische zu legen – um sich so vom wohlfeilen Amüsement abzugrenzen. So streicht der directeur artistique die Güte der technischen Ausstattung heraus: In jedem Zentrum decken achtzig bis hundert LED- oder Laser-Projektoren zwischen drei- und zwölftausend Quadratmeter Projektionsfläche auf den Wänden und am Boden ab, für gegebene Bereiche einander gar zu viert oder fünft überlappend, um eine möglichst hohe Auflösung und Farbechtheit zu garantieren. Lautsprecher und Subwoofer werden regelmäßig auf den neusten Stand gebracht – „für die Dalí-Schau mit der Pink-Floyd-Playliste habe ich in den Carrières de Lumières, wo die Nachhallzeit zehn bis zwölf Sekunden beträgt, das ganze Soundsystem auswechseln lassen“, so Iannuzzi. Eine 2016 eigens für Culturespaces Digital entwickelte Software steuert die komplexe Raumkomposition aus Bildern und Klängen.
Vor allem jedoch unterstreicht der künstlerische Leiter, wieviel gedankliche und organisatorische Arbeit hinter jeder der im Jahresrhythmus produzierten Ausstellungen steckt. „Ich ziehe mitunter zehn- oder zwölftausend Bilder heran, von denen am Ende nur fünfhundert oder tausend projiziert werden. Diese kommen aus Bilderbanken wie AKG oder Bridgeman, werden zum Teil aber auch von mir selbst geschossen. Für die Schau 'Gustav Klimt, Gold und Farbe', die zur Eröffnung im Phoenix des Lumières läuft, bin ich fünf oder sechs Mal nach Wien gereist und habe dort in Museen und Theatern fotografiert. Für Künstler, deren Werk noch nicht zum Gemeingut zählt, arbeiten wir eng mit den Erbberechtigten zusammen, etwa mit dem Comité Marc Chagall oder der Fundació Gala-Salvador Dalí.“
Ist der Bilder-Grundstock zusammengetragen, vertieft sich Iannuzzi in das Leben und Werk des oder der betreffenden Künstler. Anschließend entwirft er ein Szenario, dessen thematische oder biografische Sequenzen er jeweils mit E- oder U-Musik unterlegt. Doch werden die Bilder nicht einfach wie Diapositive an die Wand gestrahlt, sondern mithilfe von Spezialeffekt-Programmen am Computer verformt, verfärbt, gar wie Trickfilme animiert, wenn etwa Figuren sich vom Hintergrund lösen und durch den Raum wandern. Doch auch hier betont Iannuzzi, dass diese Art der Nachbearbeitung nichts Selbstzweckhaftes hat, sondern jeweils eine Aussage vermittelt. „Ich zeige zum Beispiel Cézannes Bäume in Bewegung, weil dieser gern im Freien malte und in der Provence oft der Mistral weht. Van Goghs Farben klatsche ich an die Wände, weil der wilde Sonderling die Grundmaterie seiner Bilder mit Hand und Spachtel traktierte, durchaus gewaltsam.“
„Immersive Ausstellungen" haben Konjunktur, weltweit. In Frankreich erfreut sich das Genre besonderer Beliebtheit. Neben privaten Veranstaltern, denen etwa 2019 in Lyon eine virtuelle Picasso-Retrospektive in zweihundert Bildern mit dem Segen von dessen Erben zu verdanken war, haben auch staatliche Institutionen wie der Louvre und der Pariser Grand Palais die lukrative Marktlücke entdeckt. Letzterer lud zu virtuellen Promenaden durch das rekonstruierte Pompei oder rund um die „Mona Lisa“ ein, und hat unlängst in der Bastille-Oper einen permanenten Standort eröffnet. Auf einen – von der Kritik verrissenen – Spaziergang durch ein 3D-Venedig wird dort eine Alfons-Mucha-Ausstellung folgen. Doch Culturespaces ist klar der Marktführer. Nicht nur dank seiner mittlerweile neun Standorte auf drei Kontinenten, wo Ausstellungen turnusmäßig gezeigt und so amortisiert werden können. Sondern auch wegen seines „French Touch“ (Bruno Monnier), der im Vergleich zur kommerzieller ausgerichteten Konkurrenz auf kulturellen Mehrwert setzt: Präsentation der Schauen in ikonischen umgenutzten Altbauten (einem brutalistischen Bunker in Jeju, einer neogotischen Bank in New York…), didaktische Flankierung durch Informationstafeln und Dossierausstellungen vor Ort sowie durch Buchpublikationen und Sonderausgaben renommierter Kunstmagazine.
Doch dessen ungeachtet höhnen Kritiker wie Adrien Goetz die Ausstellungen von Culturespaces ein „einträgliches Massaker, drapiert ins Alibi der Kultur für alle“. In „Le Figaro“ ätzte der Kunsthistoriker: „Hier tut Kunst Ihnen gut, wie eine ayurvedische Massage, eine Algenpackung, das Gegenteil der ach so langweiligen und traurigen Welt der herkömmlichen Museen. Wen kümmert‘s, dass Klimts subtilste Meisterwerke, die so sorgfältig gebaut und gedacht sind, hier wie Tapetenpapier behandelt werden, wie Duschvorhänge, Aquariumshintergründe.“ Man kann dem entgegenhalten, dass Iannuzzis „immersive Ausstellungen“ durchaus als eigenständige künstlerische Hervorbringungen angesehen werden können (auch wenn ihr Autor es nie und nimmer so formulieren würde): Bei aller Wirkung in die Breite entbehren sie nicht einer gewissen Tiefe. Es ist jedoch interessant zu fragen, wie die Art und Weise, wie diese Schauen mit Kunstwerken (großmehrheitlich Gemälden) umgehen, auf diese zurückwirkt. Schlüsselzitate aus Walter Benjamins bald neunzig Jahre nach seiner Entstehung noch immer wegweisendem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ mögen die Reflexion fördern.
Erstens vermögen diese Schauen Bilder – virtuell – zu vereinen, die in Sammlungen über die ganze Welt verstreut sind („Die Kathedrale verlässt ihren Platz“). Zweitens werden diese Tableaus – buchstäblich – aus ihrem Rahmen herausgelöst, um multipliziert, mit anderen kombiniert oder in ihre Einzelbestandteilte dividiert zu werden („Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“). Drittens machen Vergrößerung und Vervielfältigung an Wänden und Böden sie zum „Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption“ (wo Gemälde doch „stets ausgezeichneten Anspruch auf die Betrachtung durch Einen oder durch Wenige“ genossen hatten). Viertens stellt Culturespaces in seinem Diskurs über "immersive Ausstellungen" das „sensorielle Erlebnis“ des ziel- und informationslosen Driftens im Schwarm der Mit-Schauenden klar höher als die auf Erkenntnisgewinn abzielende Anstrengung des angeblich egoistischen Museumsbesuchs („Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber“). Endlich hat Culturespaces 2019 mit „Van Gogh, la nuit étoilée“, der Eröffnungsschau des Pariser Atelier des Lumières, sage und schreibe 1,3 Millionen Besucher angezogen. Mehr als jede Kunstausstellung in Frankreichs Geschichte – und, das ohne ein einziges Originalwerk zu zeigen! Um mit Benjamin zu schließen: „Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen.“
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