Frankreichs Rentenreform ist nach gewaltigem Aufruhr verabschiedet – doch die Proteste nehmen kein Ende. Statt auf Inhaltliches fokussiert die Diskussion nunmehr auf die Frage, ob der Volkswille bei der Ausarbeitung des Gesetzestextes respektiert wurde.
Seit Anfang des Jahrs hat sich Frankreich entzweit über das jüngste einer langen Reihe von Rentenreformprojekten. Der Streit tobte über neun Wochen hinweg, dann sauste das Fallbeil der Entscheidung unerwartet jäh nieder. Am 16. März stellte Premierministerin Borne der Nationalversammlung die Vertrauensfrage und verknüpfte diese mit der Annahme des zu jenem Zeitpunkt durch beide Kammern des Parlaments ausgearbeiteten Gesetzestextes. Die Assemblée nationale stimmte am Folgetag – mit einer knappen Mehrheit, wie man sie seit 1990 bei einer derartigen Wahl nicht mehr gesehen hatte: neun von fünfhundertfünfundsechzig Voten – gegen den durch die Opposition eingereichten Misstrauensantrag. Und nahm so automatisch, ohne weitere Abstimmung, die Rentenreform an. Diese stufte der Conseil constitutionnel am 14. April als weitgehend verfassungskonform ein; schon am Folgetag wurde der – leicht bereinigte – Text im staatlichen Amtsblatt verkündet.
Damit sollte der hitzige Streit beendet sein – ist es aber nicht. Gestreikt und demonstriert wird weiterhin landauf, landab. Für die traditionellen Arbeiterumzüge zum Ersten Mai haben Gewerkschaften die Losung „Rückzug der Rentenreform“ ausgegeben. Ein hehrer Wunsch, um nicht zu sagen blinder Wahn: Für Präsident Macron und die von ihm ernannte Regierung käme ein solcher Rückzug politischem Selbstmord gleich. Doch die Reformgegner schüren mit Verweis auf den „Contrat première embauche“ Hoffnungen, einem Dumpingarbeitsvertrag für Berufseinsteiger, der Anfang 2006 unter ähnlichen Tumulten diskutiert und verabschiedet worden war – bevor ihn Präsident Chirac sogleich suspendierte und das Parlament umgehend aufhob.
Ist es nicht undemokratisch, gegen ein frisch verabschiedetes Gesetz mobil zu machen? Um Fragen zum Ausdruck des Volkswillens dreht sich in Frankreich zurzeit fast alles. Inhalt wie Notwendigkeit der Reform treten demgegenüber in den Hintergrund. Die wichtigste Bestimmung des Textes, die Verschiebung des Rentenalters von zweiundsechzig auf vierundsechzig Jahre, wird je nach Umfrage durch zwei Drittel bis vier Fünftel der Franzosen abgelehnt, nicht völlig überraschend. Die Regierung pocht ihrerseits, ebenfalls erwartbar, auf die Dringlichkeit, das Pensionssystem langfristig zu finanzieren. Aber über Inhaltliches wird kaum mehr diskutiert. Die Kernfrage lautet vielmehr: Was ist ein demokratischer Prozess der politischen Entscheidungsfindung?
Die qualitative Bandbreite reicht dabei von Stammtischgepolter bis zu verfassungsrechtlicher Kasuistik. In erstere Kategorie fällt die (auf der Straße wie im Netz gern erhobene) Beschuldigung, das Stellen der Vertrauensfrage sei eine „Vergewaltigung der Demokratie“ gewesen. Abgesehen davon, dass man auf derlei Metaphern aus Respekt für reale Missbrauchsopfer verzichten sollte, ist das gezielte Hervorrufen eines Misstrauensvotums, um durch dessen erhofftes Scheitern automatisch die Annahme eines gegebenen Gesetzestextes zu erwirken, nur eines der Mittel des sogenannten „rationalisierten Parlamentarismus“. Mit diesem versuchte (und vermochte) die Fünfte Republik ab 1958 der chronischen Instabilität des seit 1946 vorangegangenen parlamentarischen Regimes ein Ende zu setzen (manche kritisieren indes eine Beschneidung der Befugnisse der Legislative). Der entsprechende Paragraf 49.3 der Verfassung wurde seit 1959 exakt hundert Mal angewendet; noch nie kam es dabei zum Sturz einer Regierung. Für die Exekutive ist die Vertrauensfrage nützlich, um unpopuläre Texte durchzusetzen und ein stark polarisiertes Parlament zu disziplinieren, in dem möglicherweise nur eine relative Mehrheit die Regierung trägt – wie derzeit der Fall. Von einer „Vergewaltigung“ kann schon deshalb keine Rede sein, weil der legale Rahmen am 16. und 17. März in keinem Moment verletzt wurde.
Bemerkenswert ist hingegen, dass die Regierung im Lauf der knapp siebenwöchigen Debatte in der Nationalversammlung und im Senat auf das ganze Arsenal des „rationalisierten Parlamentarismus“ zurückgegriffen hat. Neben dem berühmt-berüchtigten Paragrafen 49.3 umfasst dieses auch weitere Bestimmungen der Verfassung sowie interne Regelungen der beiden Häuser. Diese gestatten es unter anderem, die Gesetzgebungsarbeit auf fünfzig Tage zu begrenzen, die Redezeit der Parlamentarier zu beschränken und diese einzig über der Regierung genehme Änderungsanträge abstimmen zu lassen.
Kritiker monieren, die Regierung habe die Reform „durchgepeitscht“ und zu diesem Zweck für ihren Gesetzesentwurf bewusst nicht das Gefäß eines „einfachen Gesetzes“ („loi ordinaire“) gewählt, sondern jenes einer „loi de financement rectificative de la sécurité sociale“. Wie der Name besagt, dient ein solches Gesetz dem Zweck, die Finanzierung der Sozialversicherung zu rektifizieren, und zwar für das jeweils laufende Haushaltsjahr. Die aus diesem Anlass gebotene Eile (man kann nicht monatelang verhandeln, um den aktuellen Haushaltsplan zu berichtigen) legitimiert einen recht engen zeitlichen Rahmen.
Die Rentenreform habe indes nicht das Ende des Budgetjahrs zum Horizont, sondern die kommenden Jahrzehnte, nichts rechtfertige also ihre speditive Ausarbeitung, wandten sich Gegner an den Conseil constitutionnel. Dieser wies die Klage zurück, mit einem rein formalen Argument: Solange die Regierung bei der Wahl des Gefäßes für einen Gesetzesentwurf nicht gegen die Verfassung verstoße, sei es nicht am Verfassungsrat, ihr diesbezüglich Vorschriften zu machen. Und auch den Anwurf, der „exzessive“ Rekurs auf „Zwangsmittel“ habe „das Gebot von Klarheit und Aufrichtigkeit während der parlamentarischen Debatte flagrant verletzt“, parierte der Conseil constitutionnel mit Bezug auf den Buchstaben der Verfassung: Die „kombinierte Verwendung“ der betreffenden Prozeduren weise gewiss einen „unüblichen Charakter“ auf, doch jede von ihnen für sei sich verfassungskonform – folglich auch ihre „kumulierte“ Anwendung.
Was hier wie ein spitzfindiger Disput zwischen Staatsrechtlern anmuten mag, trifft in Wahrheit den Kern des Problems. Zählt zuvörderst der Buchstabe der Verfassung, den die Regierung laut dem Conseil constitutionnel respektiert hat? Oder der Geist der Demokratie, gegen den Macron und Borne nicht nur gemäß ihren Gegnern verstoßen haben? So waren Abgeordnete der Regierungsparteien, die sich monatelang für die Rentenreform eingesetzt hatten, außer sich vor Wut und Enttäuschung, dass sie durch die Vertrauensfrage der Endabstimmung beraubt wurden. Und auch neutrale Beobachter muss bedenklich stimmen, dass bei einer derart grundlegenden Reform auf ein Schlussvotum der Nationalversammlung verzichtet wurde.
Dennoch möchte man Macron, der seit Monaten unter dem Dauerfeuer der Kritik steht, hier ein wenig in Schutz nehmen. Die Rentenreform war seit je eines seiner wichtigsten Wahlversprechen, dessen Verwirklichung indes während seiner ersten Amtszeit an gewaltigen Protesten um die Jahreswende 2020 sowie an der kurz darauf einsetzenden Corona-Krise scheiterte.
Nach Macrons Wiederwahl vor einem Jahr bestellten die Franzosen dann ein Parlament, in dem nur eine relative Mehrheit die von ihm ernannte Regierung trägt. Der Rekurs auf die Vertrauensfrage hat das politische Kapital des Präsidenten und seiner Premierministerin gewiss schwer angeschlagen. Aber die Alternative wäre eine unsichere Abstimmung im Unterhaus gewesen – mit dem Risiko, die Reform am Ende abgelehnt zu sehen. Macron hat letztlich das umgesetzt, wofür er gewählt wurde – und dafür auch sinkende Beliebtheitswerte in Kauf genommen. Mut muss man ihm zugestehen.
Weitet man den Fokus, wirft die ganze Episode indes Licht auf das seit je der Fünften Republik innewohnende Machtgefälle zwischen Exekutive und Legislative. Der Regierung darf man vorwerfen, sie habe die parlamentarische Debatte kanalisiert, wo nicht gar diktiert. Umgekehrt betrieb ein Teil der – namentlich linken – Opposition Obstruktion mit der Einreichung von rund zwanzigtausend (!) Änderungsanträgen. Von einer konstruktiven Zusammenarbeit ist man weit entfernt: Die Exekutive scheint die Parlamentarier in willfährige Ja-Sager und potenzielle Saboteure einzuteilen, umgekehrt wird oft der Vorwurf der Autokratie laut.
Hier hätte der Conseil constitutionnel helfen können, ein gewisses Vertrauen, womöglich gar Gleichgewicht herzustellen. Stattdessen habe er, so etliche führende Verfassungsrechtler, mit seiner Blindheit gegenüber den „Übergriffen“ der Regierung eine historische Gelegenheit verpasst. Er hätte nämlich, so Olivier Beaud, Professor für öffentliches Recht an der Universität Paris-Panthéon-Assas, seine geschichtliche gegebene Funktion umdeuten und aus einem „quasi systematischen Beschützer der Vorrechte der Exekutive“ zu einem „Hüter der Rechte des Parlaments, genauer: der Rechte der parlamentarischen Opposition“ werden können. Nun sei es wohl zu spät, um Mut zu entwickeln, kämen dereinst Populisten an die Macht.
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