Schutzmänner als Totschläger: die Netflix-Miniserie „Oussekine“ handelt von einer in Frankreich unvergessenen Staatsaffäre
Etwas Schreckliches ist geschehen. Die Mitbetroffenen wissen noch nichts davon, wir Zuschauer schon. Diese narrative Triebfeder, vermutlich so alt wie das Geschichtenerzählen, verleiht der ersten Episode von „Oussekine“ eine mitreißende Sogkraft. Die Netflix-Miniserie handelt von einer in Frankreich unvergessenen Staatsaffäre. Hier ist er auch schon, der rehäugige Namengeber: Malik Oussekine, zweiundzwanzig Jahre jung, wie er am 5. Dezember 1986 in seinem Pariser Studentenzimmer, in Vorfreude lächelnd, einen Trenchcoat überzieht, an protestierenden Studenten vorbeieilend in der Sorbonne ein Konzertticket abholt, in einen Jazzkeller des Quartier latin hinabsteigt.
Eine Schwarze singt da gerade „Mississippi Goddam“, Nina Simones Protestsong gegen rassistische Gewalt. Und zwar just jene Zeilen, die im Nachhinein Maliks kurzes Dasein zu kristallisieren scheinen:
Hound dogs on my trail
School children sitting in jail
Black cat cross my path
I think every day's gonna be my last
Lord have mercy on this land of mine
We all gonna get it in due time
I don't belong here
I don't belong there
I've even stopped believing in prayer
Ein harter Schnitt springt über zu heranrollenden Motorrädern, auf denen je zwei Polizisten sitzen, der hintere mit einem langen Holzknüppel bewaffnet: die sogenannten "voltigeurs", deren Aufgabe darin bestand, Randalierer mit unsanfter Gewalt zu vertreiben (der Verband wurde nach der Oussekine-Affäre aufgelöst und 2018/19, auf dem Höhepunkt der Gelbwesten-Bewegung, in knüppelfreier Form wieder zum Leben erweckt). Als Malik gegen Mitternacht den Keller verlässt, den Kopf voller Synkopen, warnt ihn ein vorbeieilender junger Mann: „Nicht da rum, da geht was ab“. Doch der Jazzliebhaber zuckt bloß die Achseln.
Etwas Schreckliches ist geschehen, aber die Mitbetroffenen wissen noch nichts davon. Die fatale Botschaft sickert am nächsten Tag in einer Mischung aus Rinnsal und Sturzbach durch, bis das Fass des Bewusstseins voll ist. Derweil die Mutter mit der Nähmaschine rattert und der mittlere Bruder seinen Morgenkaffee aufwärmt, berichtet ein Radiosprecher kaum hörbar von einem verletzten Studenten. Als die Schwester Sarah an Maliks Wohnungstür klopft, bleibt alles still – „das ist überhaupt nicht seine Art“, sorgt sie sich gegenüber ihrem Freund. Dieser, ein frischgebackener Ordnungshüter, erfährt auf Nachfrage von einem Kollegen, die Familie solle sich umgehend bei der Polizeiinspektion melden. Als bei der Mutter das Telefon läutet und Sarah abnimmt, frohlockt eine aufgekratzte Männerstimme, ihr Bruder sei „krepiert wie das Stück Scheiße, das er war – ein Rapport weniger!“. Dem ältesten Bruder endlich, der in einer industriellen Wäscherei in Italien gerade mit einem Geschäftspartner verhandelt, spricht ein Mitarbeiter des dem damaligen Staatspräsidenten François Mitterrand nahestehenden Anwalts Georges Kiejman per Telefon sein Beileid aus. Keines von Maliks vier Geschwistern mag der Mutter über quälend lange Stunden hinweg die Wahrheit sagen. Als am späten Nachmittag endlich alle bei ihr versammelt sind und stumm das Ende ihres Mittagsschlafs abwarten, bricht die alte Dame beim Betreten des Wohnzimmers sogleich in Tränen aus. Worte bedarf es da keiner mehr: Das Fass des Bewusstseins ist voll.
Nach dieser starken ersten Episode befassen sich die restlichen drei mit den Folgen des Totschlags. Die Familie sieht sich massiv bedroht durch Rechtsextreme (Polizisten und/oder Vertreter der Partei der Familie Le Pen?): rassistische Schmierereien, Brandstiftung, Prügel. Ganz zu schweigen von der Unterstellung eines seinerzeit auflagenstarken Wochenblatts aus der rechten Schmuddelecke, die Affäre sei eine Inszenierung: „Oussekine, le montage“. Auf der politischen Ebene wird eine geplante Universitätsreform, die Straßenschlachten zwischen Studenten und Ordnungshütern gezeitigt hatte, zurückgezogen. Der linke Präsident und die rechte Regierung liefern sich via Kiejman und den Beigeordneten Minister für Sicherheit, Robert Pandraud, einen Kommunikationskrieg. Ersterer organisiert vor laufenden Kameras einen Kondolenzbesuch Mitterrands bei der Familie; Letzterer erklärt bei einer Pressekonferenz, nicht die Schläge, sondern Maliks seit der Kindheit schwächelnde Nieren seien für dessen Tod verantwortlich. Und lässt das Leben des Verstorbenen nach allem durchschnüffeln, was es erlauben könnte, ihn als Spieler, Süchtigen, Kriminellen, ja Terroristen zu diskreditieren. Doch zum Leidwesen des Ministers war Malik nicht nur unpolitisch und in jeder Hinsicht unbescholten, sondern so durch und durch Franzose, dass er sogar der Mehrheitsreligion des Landes beizutreten gedachte.
So kommt es zum Prozess gegen zwei der drei prügelnden Polizisten: einen reumütigen Neuling und einen hartgesottenen „Profi“ und „Patrioten“ (der Dritte ist mangels Beweisen nicht zu belangen). Viele der im Gerichtssaal aufgeworfenen Fragen scheinen im Licht jüngerer und jüngster Interaktionen zwischen Vertretern der Ordnungskräfte und einfachen Bürgern mit Todesfolge für Letztere so aktuell wie 1990. Was ist verhältnismäßige Gewalt und in welchen Fällen ist diese anzuwenden? Wie unterscheidet man zwischen Randalierern und Passanten? Wird jemand allein dadurch verdächtig, dass er vor Polizisten wegläuft? Ein Augenzeuge, der Malik bei seiner panischen Flucht vor den knüppelschwingenden Uniformträgern Einlass in sein Wohnhaus gewährt hatte, beschreibt die Brutalität der dort verabreichten Schläge; Sachverständige bestätigen deren direkten Zusammenhang mit dem Tod des Studenten. Am Ende werden die Angeklagten verurteilt, schon nach damaligem Empfinden stoßend leicht: zu drei beziehungsweise fünf Jahren Haft – auf Bewährung!
Als Fiktion „nach einer wahren Geschichte“ klebt „Oussekine“ allzu pietätvoll an den Fakten. Die Miniserie von Antoine Chevrollier ist gut gemeint und gut gemacht: Sie folgt US-Erfolgsrezepten, verwebt drei unterschiedliche Zeitstränge (die „Jetztzeit“ der Erzählung, die Vorgeschichte der Familie, Rückblicke auf Maliks letzte Lebensstunden), typisiert die Protagonisten markant, wenngleich eine Spur schematisch, verklammert kurze, unverbundene Szenen durch überlappende Motive. Das Ganze mit Können, aber ohne Kunstsinn: Im Detail wirkt manches papieren, insgesamt fehlt eine eigene Handschrift. Für einen Autorenblick auf die Affäre ist es in Frankreich offenbar noch zu früh.
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