„Le Papotin“ ist eine Zeitschrift, die durch Autisten verfasst wird. Vor dreiunddreißig Jahren gegründet, konnte das journal atypique bekannte Künstler und sogar drei französische Staatspräsidenten interviewen. Seit sechs Monaten hat es auch einen TV-Ableger: Anfang des Jahrs stellte sich Emmanuel Macron darin den farbigen Fragen einer nicht minder bunten Runde.
Paris, im Institut du monde arabe. Der sogenannte Saal des Hohen Rats: eine dreiseitig verglaste Sinfonie in Schwarz und Silber hinter den Uhrwerk-Mechanismen von Jean Nouvels Maschrabiyya-Sonnenblenden. In diesem Käfig aus Kristall unterzieht sich Emmanuel Macron einem außergewöhnlichen Interview: Einundfünfzig Mitglieder der Vereinigung „Le Papotin“, die an Autismus-Spektrum-Störungen leiden, stellen ihm schlichte oder schwere Fragen. Noch sind alle nicht an ihrem Platz, aber die Kameras drehen bereits. Frankreichs Präsident drückt, ganz der Berufspolitiker, allen Anwesenden die Hand. „Guten Tag Herr Präsident, wie heißt Du?“, fragt ihn Arnaud D. ohne aufzustehen. „Was machen Sie im Leben, Emmanuel Macron, was für einen Beruf?“, brennt Grégory zu wissen. „Unsere atypischen Journalisten freuen sich sehr, Sie bei den ‚Rencontres du Papotin‘ begrüßen zu dürfen“, leitet der Psychologe und Moderator Julien Bancilhon die Begegnung ein. Macron stellt sich kurz als „Staatspräsident, ehemaliger Bankier und Berater“ vor, was der überwiegend jungen Zuhörerschaft indes weniger Reaktionen entreißt als sein „hohes“ Alter von vierundvierzig Jahren und seine sieben Enkelinnen und Enkel. Dann kommt die erste Salve von Fragen: „Wie heißt Ihre Frau?“. „Brigitte“. „Wann ist ihr Geburtstag?“. „Am 13. April“. „Wo ist sie geboren, als sie ganz klein war?“. „In Amiens“.
Wie alle Gäste des seit September etwa alle anderthalb Monate auf France 2 ausgestrahlten Magazins ist Macron anfangs etwas angespannt: bemüht um natürliches Taktgefühl und um lächelnde Unverkrampftheit. Aus heiterem Himmel heraus gefragt, ob er ein Parteigänger der Rechten sei, gerät der versierte Redner gar ein wenig ins Rudern. Doch Yohann beruhigt ihn mit der Aussicht auf eine rosige Zukunft: „Was ich Ihnen konkret sagen kann, ist, dass Ihre Frau Brigitte auf Sie stolz sein wird und Sie, ehrlich, bis an den Weg des Erfolgs führen wird“. Als Lucile ihm „Love me please, love me, je suis fou de vous“ vorsingt, reißt Macron die Augen auf; als Stanislas wie ein tickgeplagter Täuberich Ex-Präsident Sarkozy imitiert, muss er bereits lächeln. Pierres Frage, warum ein Patient sich nicht in eine Betreuerin verlieben könne, beantwortet der Präsident dann gleichsam auf Augenhöhe: „In der Liebe ist alles möglich, Du triffst da nicht wirklich eine Wahl, es überfällt Dich.“ Doch Adrien hat, von einem Fuß auf den anderen tretend, einen Einwand: „Er ist der Präsident, er muss mit gutem Beispiel vorangehen – und nicht seine Lehrerin heiraten!“. Prusten aus der Runde.
„Meine Eltern“, blickt Macron auf den Anfang seiner Liebe zu der siebenundzwanzig Jahre älteren Theaterlehrerin zurück, die heute seine Gattin ist, „haben das zunächst nicht gut aufgenommen. Man malt sich für seine Kinder immer ein Lebensschema aus, das dem eigenen entspricht – oder zumindest einer gewisse Norm. Tritt etwas ein, das nicht in dieses Schema passt, ist man verwirrt und besorgt.“
Die „Rencontres du Papotin“, deren drei erste Gäste die Schauspieler Gilles Lellouche und Camille Cottin sowie der Sänger Julien Doré waren, wurden auf Anregung von Olivier Nakache und Eric Toledano ins Leben gerufen. Die beiden Regisseure sind über die Landesgrenzen hinaus bekannt als Autoren von Wohlfühlfilmen mit Tiefgang rund um das Thema „Gesundheit“ – darunter der Publikumserfolg „Intouchables“ über einen reichen, weißen Querschnittsgelähmten und seinen armen, schwarzen Pfleger (gespielt durch François Cluzet und Omar Sy) sowie die Arte-Serie „En thérapie“. Dass ihr letzter Kinofilm, „Hors normes“ (2019), sich mit Autisten (beziehungsweise vor allem mit deren Angehörigen und Pflegern) befasst, ist – auch – die Folge einer Fragestunde mit den Verfassern der Zeitschrift „Le Papotin“ 2015.
Diese wurde schon vor dreiunddreißig Jahren durch Driss El Kesri gegründet, Betreuer in der Tagesklinik von Antony bei Paris, die Autisten zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren empfängt. Zunächst eine hausinterne Aktivität wie Theaterspielen oder psychomotorische Übungen, zog das Produzieren einer Zeitschrift jeden Mittwochmorgen bald auch Interessenten aus anderen spezialisierten Strukturen im Pariser Großraum und sogar in Belgien an. Das Impressum der jüngsten Ausgabe führt so nicht weniger als dreiundachtzig Redakteurinnen und Redaktoren aus zweiundzwanzig verschiedenen Strukturen auf.
Zwischen der Nummer 1 vom Mai 1990 und der am 14. März erschienenen Nummer 40 hat sich das Blatt markant professionalisiert. Zählte erstere bloß acht Seiten mit flauen Schwarzweißfotos und anfängerhaft überladenem Layout, so umfasst letztere deren 124 und besticht durch ihre abwechslungsreiche, souverän-verspielte grafische Gestaltung. Geblieben ist indes die Grundausrichtung. Diese stellte der Psychiater Moïse Assouline, Herausgeber von „Le Papotin“ seit der Gründung, in der Nummer 21 in elf Punkten vor. Zusammengefasst: das Streben nach Würde und sozialer Anerkennung durch das Hervorheben dessen, was alle Menschen verbindet (namentlich Kunst und Kultur), und unter Zurückweisung von Mitleid, positiver Diskriminierung sowie des klinischen Blicks. „Kranke werden nicht allein durch ihre Krankheiten definiert, Behinderte nicht durch ihre Behinderungen, Autisten nicht durch ihren Autismus“, so Assouline. Vielmehr bestächen die Verfasserinnen und Verfasser der Zeitschrift durch Intelligenz, Einfallsreichtum, einen anderen Blick, Komik, treffende Naivität, Kommunikationsvermögen und Hedonismus aus.
Diese Tugenden zeichnen in der Tat viele der Interviews, Zeichnungen und lyrischen Kurztexte aus, die die drei Grundpfeiler von „Le Papotin“ bilden. Gerade die unformatierten Gespräche sind das Markenzeichen der Zeitschrift und ihres TV-Derivats, schlagen die unverblümten, oft gar unerhörten Fragen der Papotines und Papotins an Gäste wie Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy, Mireille Mathieu oder Carla Bruni doch immer wieder zündende Funken. Manche dieser Fragen tönen ganz praktisch, ja prosaisch: „Mit was rasierst Du Dich morgens?“, „Gehst Du gern bowlen?“ Andere wirken profund, wo nicht gar obskur: „Welche Liebe ziehen Sie vor: die sexuelle, familiäre, tierische, freundschaftliche oder die Liebe zur Natur?“, „Wenn man sich ständig Freuden des ganzen Körpers zugesteht, zehrt man dann nicht eine Form von Energie auf, die, unverbraucht, andere Formen von Intelligenz zeitigt?“. Nicht zuletzt wachsen einem von Ausgabe zu Ausgabe gewisse „Typen“ von Fragesteller ans Herz: der Klassikfan und der Autonarr, der Lakoniker und die Superherzliche, der leutselige Duzer und der ölige Präsidentschaftsanwärter, die Timid-Verdruckste und der Drechsler poetisch-verschwurbelter Phrasen. Wer es nicht schon gewusst hätte, begreift hier in der Anschauung, dass Autisten ganz unterschiedliche Charaktere besitzen. Der Leser und/oder Zuschauer erlebt sie als seinesgleichen, als Menschen wie du und ich. Genau die Einsicht, die „Le Papotin“ zu vermitteln sucht.
Eine Problematik indes gilt es – bei allem verdienten Lob für die Zeitschrift und für das neue TV-Magazin – zum Schluss wenigstens anzuschneiden. Es geht um den Status der Papotins und Papotines. Sie stellen ein journal atypique her (so der Untertitel der Zeitschrift), führen Interviews und nennen sich folgerichtig Journalisten. Es wäre gewiss kleinlich zu beanstanden, dass sie keine Pressekarte besitzen, keine entsprechende Ausbildung genossen haben und auch nicht von ihrem Metier leben. Wichtig ist jedoch die Klarstellung, dass was sie machen sich fundamental vom Journalismus unterscheidet. Journalisten – trotz vieler Ausnahmen gilt die Regel nach wie vor – streben nach Objektivität und Neutralität; sie halten mit Persönlichem zurück, um die Rede der Interviewten so frei und deutlich wie möglich fließen zu lassen. Bei Unklarheiten haken sie nach – was die Papotins nie tun, selbst dann nicht, wenn ein Schriftsteller vom Rang eines Daniel Pennac ihnen die gewiss nachhakenswerte Konfidenz macht, er schätze sich selbst als Autor mehr denn als Person.
Die „Interviews“ der Papotins sind genaugenommen Gesprächsrunden. Ein Gast sucht darin den Austausch mit dem Kollektiv; Ziel ist nicht, den betreffenden Sänger, Schauspieler oder Politiker über Berufliches auszufragen, sondern mit ihm auf der menschlichen Ebene zu dialogieren. Die Papotins plaudern denn auch geläufig über ihr eigenes Leben, singen Lieder oder hätscheln einander – was professionelle Journalisten nicht tun würden (beziehungsweise nicht tun sollten). Sie zeitigen mit ihrem ungefilterten Auftreten, ihren sprunghaften Fragen, ihrem Schalk oder ihrer Verletzlichkeit erfrischende Reaktionen. Aber zu behaupten, ihre Gäste förderten „aus sich selbst Ressourcen an Ethik und Echtheit zutage, die sie in ‚neurotypischen‘, mehr oder weniger feindseligen und misshandelnden Interviews ersticken“ (wie es die Nummer 35 der Zeitschrift tut), heißt das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Umstand, dass viele Berufsjournalisten denk- und arbeitsfaul sind – oder schlicht durch ein System formatiert, das keinen Raum für Qualitätsarbeit lässt –, bedeutet mitnichten, dass alle diese Untugenden teilen. Gute Interviews und atypische Gesprächsrunden sind zwei grundverschiedene Dinge. Sie gegeneinander auszuspielen ist demagogisch. Man wollte beide nicht missen: Sie sind komplementär.
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