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marczitzmann

Den Atem anhalten vor dem allfälligen Super-GAU

Aktualisiert: 24. Juni

Frankreichs Künstler und Intellektuelle über die Möglichkeit, dass im Juli Rechtsextreme die Regierungsmehrheit erringen

 


Frankreichs Kulturwelt hält vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli den Atem an. Präsident Macrons Beschluss, nach dem eklatanten Wahlsieg des rechtsextremen Rassemblement national (RN) bei den Europawahlen am 9. Juni die Nationalversammlung aufzulösen, wird durch Künstler und Intellektuelle fast einhellig gegeißelt: „Öl aufs Feuer“, „Pokerspiel mit der Demokratie“, „‘nach mir die Sintflut‘-Strategie“, „spätpubertäre Reaktion voller Wut, Frustration und Selbstüberhebung“.


Bereits am 10. Juni veröffentlichten 380 von ihnen, unter ihnen die Nobelpreisträgerinnen Annie Ernaux (Literatur) und Esther Duflo (Wirtschaftswissenschaften), der Historiker Patrick Boucheron und der Soziologe Didier Fassin, einen Aufruf zur Einigung der Linken. Bezeichnenderweise führt ihr Text die ersehnte – und seither durch ein gemeinsames Programm und eine Aufteilung der 577 Wahlkreise formalisierte – „Neue Volksfront“ nicht zurück auf die 1936 unter dem Namen „Front populaire“ siegreiche Linkskoalition. Sondern auf die Prämissen dieses Bündnisses im Jahr 1934, als blutige Ausschreitungen rechter und rechtsextremer Elemente vor der Assemblée nationale zum Sturz der damaligen Regierung geführt hatten – die Bildung der Volksfront war die Antwort auf die „faschistische Gefahr“. Der Verweis auf 1934 statt auf 1936 bezeugte so die Hoffnung, mehr als einen Sieg der Linken eine Niederlage der Rechtsextremen zu sehen. Ihr Wunschprogramm lieferten die Unterzeichner des Aufrufs gleich mit: „Lösungen für dringende soziale Fragen, für Umweltzerstörung und Frauenbenachteiligung, Kampf gegen alle Rassismen, gegen die Ablehnung von Muslimen und gegen Antisemitismus, gegen die Stigmatisierung von Migranten und sexuellen Minderheiten sowie für Respekt, Würde und Gleichheit“.


Während die sogenannte bürgerliche, einst staatstragende Rechte am 11. Juni implodiert ist und aus dem Mund des – seither freilich von fast allen Parteigenossen verlassenen – Präsidenten der Bewegung Les Républicains zu einem Bündnis mit dem RN aufgerufen hat, mochte bislang kein Künstler oder Intellektueller ein solches Szenario befürworten. Doch eine Handvoll würde, vor die Wahl gestellt, lieber für einen Rechtsextremen stimmen als für einen Kandidaten des Nouveau Front populaire. Unter ihnen die Publizisten Luc Ferry und Alain Finkielkraut, die indes schon länger ohne Kompass auf den Rechtspol zu driften – aber auch und schockierenderweise Serge Klarsfeld. Was mag den Nazijäger und Holocaustforscher dazu verleitet haben, im Fall einer Stichwahl zwischen „einer antisemitischen und einer projüdischen Partei“ für letztere votieren zu wollen – gemeint ist der RN, eine Bewegung, zu deren vier Gründern der verurteilte Negationist Jean-Marie Le Pen, ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS sowie ein früherer Kollaborateur der deutschen Besetzer zählen? Klarsfeld ist der Ansicht, die Partei sei „frequentierbar“ geworden, und stellt ihr gar ein Brevier aus für „Philosemitismus“. Offenbar sieht der 88-Jährige im RN einen Schutzschild gegen Judenhasser von linksaußen wie auch gegen als unkontrollierbar angesehene „Immigranten“ – sprich: Muslime. Die führenden jüdischen Organisationen zeigten sich konsterniert und distanzierten sich klar von Klarsfelds Position. Der Leiter des Dachverbands der jüdischen Institutionen Frankreichs wie jener der Union jüdischer Studenten Frankreichs nennen den RN unverändert „gefährlich“.


Beate und Serge Klarsfeld erhalten am 13. Oktober 2022 die Medaille der Stadt Perpignan – von den Händen des RN-Bürgermeisters Louis Aliot (Bild: Ville de Perpignan)

Endlich gibt es ein drittes Lager, dessen Stimme fast unhörbar ist, das aber womöglich die schweigende Mehrheit bildet. Es setzt sich zusammen aus all jenen, die weder für den RN stimmen mögen noch für die Bewegung von Macron – der heute den sozialen Humanisten gibt, morgen den liberalen Technokraten, an den fünf Folgetagen den autoritären Muskelmann – noch für ein Linksbündnis, an dem La France insoumise (LFI) teilhat. Einige Vertreter von LFI bezeugen nämlich Sympathien für die Hamas, für Putin und für antisemitisches Gedankengut; ihr Demokratieverständnis lässt zu wünschen übrig. „Wen kann man da noch wählen?“, fragt die große Soziologin Nathalie Heinich. „Wie jäh zu Waisen gewordene Kinder in einem greulichen Märchen irren wir durch Gefilde, die nicht mehr die unseren sind, im Schatten eines Ogers – eine unfähige, vernagelte, fremdenfeindliche rechtsextreme Partei –, der unser Land zu verschlingen droht, und uns mit diesem“.


„Was haben wir falsch gemacht?“, echot dem die Theaterleiterin Ariane Mnouchkine. Und antwortet im Namen der linken Kulturschaffenden: „Wir haben den Ängsten und Befürchtungen nicht zuhören wollen. Wenn die Leute uns erzählten, was sie sahen, sagten wir ihnen, dass sie sich irrten, dass sie nicht sahen, was sie sahen. Es sei nur ein trügerisches Gefühl, versicherten wir ihnen. Als sie auf ihrer Sichtweise beharrten, hießen wir sie Idioten, dann, angesichts ihrer Sturheit, Dreckskerle. So haben wir ein großes Drittel Frankreichs vor den Kopf gestoßen, mangels Imagination. Vorstellungskraft ist das, was es einem ermöglicht, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Ohne sie gibt es kein Mitgefühl.“ Genau dieses Einfühlungsvermögen fehle dem Gros der Fotografen, Film- und Theaterregisseure, doppelt der „Le Monde“-Kulturkolumnist Michel Guerrin nach. Sie zeigten lieber Problem-Banlieues als Einfamilienhaussiedlungen, lieber Stadtlandschaften als Wald und Wiesen, lieber gesellschaftliche Phänomene als die Gesellschaft an sich. Ihre Empörung wie ihre Empathie sei selektiv: „Sie ignorieren die Zukurzgekommenen der Globalisierung, wenn diese in ihren Augen das Heer der Reaktionäre vergrößern.“


Éric Ruf, der Intendant der Comédie-Française, sah sich schon aus familiären Gründen gezwungen, das Pauschalurteil, „ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung bestehe aus Gehirnamputierten“, zu überkommen. Sein eigener Vater, der Arzt war und ihn Griechisch und Latein lernen hieß, stimmte für den damaligen Front national. Heute versucht Ruf als Leiter der ersten Sprechbühne des Landes, einen „Nistplatz“ zu bauen für das Ausschlüpfen von Werten. „Wird ein junger Mann, der zwanzig Produktionen gesehen hat, besser mit der Welt, mit seiner Partnerin, mit seinen Problemen umgehen können als einer, der nie einen Fuß ins Theater gesetzt hat?“. Eine Sisyphusarbeit, die „die ehernen Gesetze des Marktes, der politische Zynismus und eine zunehmend kleinkrämerische und kafkaeske Obrigkeit“ immer wieder zunichtemachten. Wie Mnouchkine oder Tiago Rodrigues, der Leiter des Festival d’Avignon, schließt Ruf aus, mit einer allfälligen RN-Regierung zu kollaborieren. Rodrigues zeigt sich unter den dreien am kämpferischsten. Von Rücktritt im Fall des politischen Super-GAUs mag er nichts hören. Frankreichs kulturelle Ausnahme, die – wie er als Portugiese bezeugen könne – europa-, ja weltweit ausstrahle, müsse verteidigt werden.


Doch womöglich sind all das bloß schöngeistige Gedankenspiele von Erfolgsverwöhnten. Für die kleinen Rädchen in Frankreichs großem Kulturgetriebe geht es buchstäblich ums Überleben. Der RN bedroht die Subventionen für die darstellenden Künste und für zeitgenössische Kunst, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Zehntausende von Arbeitsstellen, die von diesem abhängen, das einzigartige System der Unterstützung für über 300 000 zeitweilige Kulturschaffende. Kommt er im Juli an die Macht, könnte alles zusammenbrechen.

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