Ja, dieser Titel ist Clickbaiting, schließlich geht es hier um Mode: Der Pariser Palais Galliera widmet eine ganze Ausstellung dem tollen Jahr 1997, als Gaultier, Galliano & Co einen Urknall bewirkten
Der Palais Galliera, das städtische Modemuseum von Paris, zeigt eine Ausstellung über das Jahr 1997 (genaugenommen über die Zeit zwischen Oktober 1996 und November 1997). Warum nicht 1969 oder 2012? Nun, 1997 war das Jahr eines „Fashion Big Bangs“ (so der Untertitel der Schau) – weltweit, aber ganz besonders in Paris. Die kosmologische Metapher stammt aus der Zeitschrift „Vogue“: Mittels achtunddreißig Schlüsselmomenten – „Ernennungen, erste Defilees, erste Kreationen, wegweisende Kollektionen, Einweihungen, Geburtstage, tragische Tode, markante Änderungen“ – suchen die drei Galliera-Kuratoren, Miren Arzalluz, Sylvie Lécallier und Alexandre Samson, das Bild vom Urknall zu beglaubigen.
Zunächst vier Grundcharakteristiken des Modejahrs 1997. Erstens kam es in dieser Zeit zu einem „grand mercato“, einem an die Welt des Fußballs gemahnenden Rausch von Transfers und Ernennungen. LVMH, schon damals der weltgrößte Luxusgüterkonzern, erneuerte die künstlerischen Direktionen seiner Häuser Céline, Christian Dior, Givenchy, Loewe und Louis Vuitton und stellte junge Angelsachsen an ihre Spitze: Michael Kors, John Galliano, Alexander McQueen, Narciso Rodriguez beziehungsweise Marc Jacobs. Chloé, Guy Laroche, Hermès und Lanvin verpflichteten ihrerseits Stella McCartney, Alber Elbaz, Martin Margiela respektive Cristina Ortiz. Zweitens erhielt die altersschwache Haute Couture 1997 eine Transfusion von jungem Blut, die sie jäh wieder knackig und begehrenswert machte. Die Suche nach einem Nachfolger für Gianfranco Ferré als Designer der Dior-Damenkollektionen hatte 1996 gewaltiges Interesse hervorgerufen: Azzedine Alaïa, Martine Sitbon, Vivienne Westwood, Thierry Mugler und Jean Paul Gaultier bewarben sich offiziös, wo nicht gar offiziell. Die beiden Letztgenannten lancierten, nachdem schließlich Galliano bei Dior ernannt worden war, ihre eigene Haute-Couture-Linie – und zwar jeweils mit einem egalitaristischen Einschlag: Gaultier zeigte im selben Defilee Damen- und Herrenmodelle („ich habe mich immer für Gleichberechtigung starkgemacht“), Mugler mischte Couture- und Prêt-à-porter-Kreationen untereinander.
Drittens erkämpfte sich die Mode in jener Zeit ihren Status als Kunstform, wovon im Jahr 1997 unter anderem die Wiedereröffnung des Pariser Musée de la mode et du textile im Louvre und die Gründung der akademischen Zeitschrift „Fashion Theory“ in New York zeugten. Viertens und endlich erschlossen sich Designern in jenem Jahr neue, eminent zukunftsträchtige Kanäle der Verbreitung und/oder Mediatisierung: Der Concept-Store (mit der Eröffnung der bald weltweit ausstrahlenden Boutique colette in Paris), das Fernsehen (mit dem österreichischen Kanal „Fashion TV“) und das Internet (mit der französischen Website „FashionLive.fr“, die „Style.com“ und „Vogue Runway“ vorwegnahm, und mit der ersten ausgewachsenen Website eines Designers, jener des Flamen Walter Van Beirendonck).
Nehmen wir einige der Positionen unter die Lupe, die im Jahr des Urknalls durch den Äther schossen. Erstaunlich viele der Mode-Revolutionäre zollten damals der Vergangenheit Respekt. Yohji Yamamoto verneigte sich in seiner „Hommages“ betitelten Kollektion vor Jacques Fath, Gabrielle Chanel und Christian Dior. Gaultier inszenierte sein erstes Haute-Couture-Defilee in augenzwinkernder Anspielung an jene der Zwischenkriegszeit: Das Dekor eines Salons, eine Prozession von Mannequins, die Stimme einer Ansagerin. Andere ließen sich durch Geschichte und Mythos inspirieren: Gianni Versace bot in seinem überwiegend in Schwarztönen gehaltenen Schwanengesang einen Mix aus Japan und Byzanz, Alexander McQueen ließ in seiner ersten Kollektion für Givenchy unter dem Titel „Auf der Suche nach dem Goldenen Vlies“ mythologische Kreaturen paradieren.
Manche legten den Grundstein für neue Looks: Tom Ford für den nicht geschlechtsspezifischen „Pornochic“ (mit seinem durch Aphroditen wie durch Apollos getragenen G-String für Gucci), Raf Simons für den adoleszenten Look bei Männern (mit einer Bande ranker Skater und Surfer in seinem ersten Defilee). Andere setzten den Akzent aufs Konzeptuelle. Martin Margiela spielte in seiner „Stockman“-Kollektion mit dem Non-finito, indem er auf ausgehöhlte Mannequin-Büsten die Vorder- oder Hinterseite eines Pullovers oder Rocks heftete. Hussein Chalayan stieß mit seiner Kollektion „Between“ eine Reflexion zum Thema „Identität“ an: Am Ende des Defilees traten sukzessive sechs Models auf, deren erstes bis auf einen Gesichtsschleier nackt war, während die anderen immer längere schwarze Tschadors trugen – am Schluss starrten ein Dutzend Vollverschleierte durch den Sehschlitz ihrer weißen Ganzkörperverhüllung ins Publikum. Rei Kawakubo endlich erfand in „Body Meets Dress, Dress Meets Body“, einer der berühmtesten Kollektionen der Modegeschichte, völlig neue Körpervolumen: Die Gründerin der japanischen Marke Comme des Garçons stopfte unter Roben, Röcke und Oberteile aus Stretch dicke Daunenpolster, die ihren Models Protuberanzen à la Quasimodo gaben – ein Jahr später doppelte die Designerin mit legendären Kostümen für Merce Cunninghams Tanzstück „Scenario“ nach.
Von diesen mehr kopflastigen als körperbetonten Kreationen grenzten sich Schöpfer ab, die demonstrativ tragbare Kleider schufen. Zu ihnen zählen Alber Elbaz, der seiner ersten Kollektion bei Guy Laroche die Absichtserklärung vorausschickte, er wolle Kleider schaffen, nicht Kostüme – „auch wenn das weniger medienwirksam ist“ –, und Hedi Slimane, der für Yves Saint Laurent Rive Gauche die Männermode zum Leben erweckte, nicht nur in Frankreich das Stiefkind der Branche. Weniger Kleider denn Verkleidungen präsentierten dagegen McQueen in seiner zweiten Kollektion für Givenchy und Thierry Mugler in seiner Couture-Schau. Ersterer ließ unter dem sprechenden Titel „Eclect/Dissect“ im Dr.-Caligari-Ambiente der École de médecine schauderhafte Frankenstein-Silhouetten mit Hörnern und Fängen defilieren, Letzterer mit Fliegen-Korsetten, Panzer-Westen und Spinnweb-Schals kostümierte Insekten-Masken.
Es gibt Schauen fürs Auge und solche für den Kopf. „1997 Fashion Big Bang“ zählt zu letzteren. Wegen der knappen Ausstellungsfläche im Palais Galliera illustriert jeden der achtunddreißig Schlüsselmomente nur eine kleine Zahl an Exponaten – großmehrheitlich ein einziges Outfit zuzüglich, hier und da, eine Fotografie oder Zeichnung, ein Accessoire oder Dokument (Videoausschnitte der betreffenden Defilees finden sich dafür durchweg). Wer nicht nach Paris reisen kann, ist daher mit dem Katalog gut bedient, der zu jedem Eintrag ausführliche Erklärungen liefert.
Ein Verdienst der Schau ist es endlich, dass sie den Blick nicht nur auf den Laufsteg lenkt, sondern auch Filmkostüme (Gaultiers Kreationen für Luc Bessons Kinohit „Le Cinquième Élément“) und „Berufsuniformen“ (Jean-Charles Castelbajacs Gewänder für Johannes Paul II. und andere Kirchenmänner) ins Auge fasst, It-Accessoires wie Fendis Handtasche „Baguette“ oder Margielas „Double tour“-Armband für Hermès betrachtet, und selbst den tragischen Tod dreier sehr verschiedenartiger Mode-Ikonen nicht aus dem Sichtfeld bannt: die Überdosis von Davide Sorrenti, die Ermordung von Gianni Versace und den Unfall von Lady Di.
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